Donnerstag, 04. Juli
Schon beim Aufwachen scheint die Sonne in mein Zimmer – was für eine Überraschung! Ich eile zum Fenster und hoffe, dass sich Nebel und Wolken endlich verzogen haben.
Der Schlegeisspeicher liegt hellblau unter mir, die umliegenden Berge werfen Schatten. Die Wolken haben sich fast komplett verzogen und die Sonne ist zu sehen.
Auf dem Alpenhauptkamm liegt Neuschnee und hat den vom Saharastaub gefärbten Altschnee unter sich bedeckt.
Juhu, endlich wieder besseres Wetter!
Das passt perfekt, denn heute werde ich die Grenze nach Italien überschreiten und die kommende Nacht bereits in Südtirol verbringen.
Ich freue mich auf den Tag, mache mich fertig und gehe zum Frühstücken.
Im Gastraum liegen mehrere Stapel Wäsche.
Heiko, der Herbergsvater („Wirt“ wäre eine Untertreibung), hat nicht nur gewaschen, sondern auch alles zusammengelegt und nach Möglichkeit sortiert.
Ich bin begeistert, suche die noch fehlenden Socken und packe alles in meinen Rucksack.
Lars und ich wollen gemeinsam aufs Pfitscher Joch gehen und Heiko rät uns, rechtzeitig loszugehen. “Wenn der erste Bus aus dem Tal hier hochkommt, wird es voll“, erklärt er.
Durch den Zamser Grund zum Pfitscher Joch
Also machen wir uns nach dem Frühstück auf den Weg durch den Zamser Grund hoch zum Pfitscher Joch.
Trotz sehr unterschiedlicher Gehgeschwindigkeiten finden wir ein gemeinsames Tempo und auch viele Gesprächsthemen. Die Schmerzen im Knie sind schnell vergessen und es läuft sich fast von allein.
Zwischendrin muss ich immer wieder innehalten und die Landschaft betrachten. Es ist wunderschön hier oben, und das liegt nicht nur an den letzten beiden vernebelten Tagen!
Die Luft ist frisch, die Landschaft karg, es gibt niedrige Pflanzen, viel Wasser und endlich wieder Sonnenschein. Kühe beobachten uns und wir sind beinahe die einzigen Wanderer hier.
Kurz vor dem Pfitscher Joch geht es über einen Geröllpfad etwas steiler hinauf, und dann sind wir plötzlich oben.
Vor uns steht der berühmte Grenzstein zwischen Italien und Österreich, ein Stückchen dahinter das mit Aufklebern übersäte große Schild.
„Willkommen in Südtirol“.
Ich bin in Italien, Wahnsinn!
Zwei andere Wanderer machen Fotos am Grenzstein, wir fotografieren uns gegenseitig, die Stimmung ist gelöst.
Das Pfitscherjoch-Haus ragt vor uns empor und wir beschließen eine Einkehr.
Es ist zwölf Uhr und wir haben Glück, dass nicht viel los ist. Also suchen wir uns einen Tisch, bestellen Spaghetti und alkoholfreies Weizen und genießen den Ausblick durch das Fenster.
Doch dann öffnet sich die Tür zur Gaststube und ein nicht enden wollender Strom Menschen kommt herein. Allem Anschein nach kam eine große Gruppe irgendwie mit einem Bus hier hoch, denn die (überwiegend) Seniorinnen tragen allesamt saubere Schuhe und die Kleidung hat teilweise noch Bügelfalten.
Dazwischen stehen immer wieder schmutzige, abgekämpfte Wanderer mit großen Rucksäcken und allerlei Kram, der draußen dranhängt. Der Unterschied könnte nicht größer sein.
War es das etwa schon?
Weil es laut und voll wird, essen wir fertig und gehen dann nach draußen.
Ab hier trennen sich unsere Wege. Wir tauschen Kontaktdaten aus, ich wünsche Lars einen erfolgreichen Weg nach Venedig und nach einer Umarmung geht Lars Richtung Pfitscher Tal, während ich noch ein wenig Zeit hier oben verbringen möchte.
Ich will nicht runter! Ich will hier oben bleiben, ich will die Berge nicht verlassen!
Monatelang habe ich mich auf diese Wanderung vorbereitet, habe geplant, alles wieder verworfen, habe viel gelesen, Bilder angeschaut und Videos und Apps benutzt, um meine ganz individuelle Alpenüberquerung zu planen.
Mein Knie hat die Anstrengung bisher gut mitgemacht, was ich mir im Vorfeld zwar erhofft, aber nicht erwartet hatte.
Und morgen soll alles schon wieder vorbei sein?
Die Landschaft am Pfitscher Joch ist wunderschön, ich würde am liebsten noch bleiben und einfach nur schauen. Ich würde gern einen der vielen anderen Wege nehmen und dabei immer wieder die Perspektive auf dieses schöne Fleckchen Erde wechseln.
Doch ich muss weiter, muss jetzt absteigen, muss hinunter ins Tal.
Die spannenden Etappen, die tolle Landschaft und das Ungewisse liegen jetzt hinter mir. Nur noch eine Stunde bergab, dann geht es nur noch auf Straßen und zwischen Wiesen in Richtung Stadt.
Doch der Weg hinunter ins Tal hat es in sich.
Der Abstieg ist steil, die Belastung für das Knie hoch und ich beschließe, in Stein, dem letzten Ort im Tal – also für mich dem ersten –, den Bus bis nach Kematen zu nehmen.
Für die letzten vier Kilometer bergab brauche ich zwei Stunden und werde ständig von anderen Wanderern überholt. Es ist nicht nur anstrengend, ich bleibe auch immer wieder stehen, mache Fotos, schaue mich um, genieße noch einmal die Berge.
Mein Körper, besonders das Knie, will unbedingt ins Tal und sich ausruhen.
Mein Kopf hingegen will noch lange nicht ins Tal. Mein Kopf will wieder zurück, will andere Wege nehmen, will die Berge, die Sicht, die Luft, die Tiere und Pflanzen – einfach alles.
Io sono tedesca!
Irgendwann erreiche ich Stein/Sasso.
Es ist heiß, die Sonne knallt vom Himmel, ein paar junge Leute mähen die Wiese und harken Gras und Heu zusammen.
Ich vermute die Bushaltestelle unten auf der Hauptstraße – nur wo?
Ein älterer Wanderer steht am Straßenrand und ich spreche ihn an.
„Entschuldigung“, sage ich sehr deutlich, weil ich nicht weiß, welche Sprache er spricht. „Ich suche den Bus“ und betone Bus dabei. Was heißt Bus auf Italienisch? Vielleicht weiß er gar nicht, was ich meine.
Doch er zeigt mit ausgestrecktem Arm zur geteerten Straße und gibt mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich ihm folgen soll.
Wir gehen nebeneinander her, er redet auf Italienisch und ich verstehe ihn nicht.
„Io sono tedesca, ich bin Deutsche“, erkläre ich ihm den einzigen italienischen Satz, den ich kenne.
Er antwortet mir in gebrochenem Deutsch, dass er als junger Mann ein paar Wochen in Frankfurt gelebt hat. Dann wechselt er zwischen Italienisch und Deutsch hin und her und erklärt mir gestenreich, dass seine Großmutter im KZ getötet wurde.
Ich muss schlucken und empfinde Mitleid und Scham zugleich.
Scham und Mitleid für das, was Deutsche vor achtzig Jahren getan haben, aber auch persönliche Scham dafür, dass ich als bekennende Antifaschistin im Ausland trotzdem als Nachfahrin von Verbrechern wahrgenommen werde. Ich würde ihm meine Haltung gern erklären, aber mir fehlen die passenden Worte. Wir haben keine gemeinsame Sprache und es ist schwierig, so über Gedanken und Gefühle zu sprechen.
Ferrata, ferrata!
Wir gehen also nebeneinander her, er erzählt viel und ich verstehe nichts.
Ich frage nach „Bus“ und „Taxi“, er antwortet „ferrata“ und ich glaube, er meint damit die Straße. Zumindest gibt es Klettersteige in den Alpen, die „ferrata“ im Namen tragen (ich tippe auf den Wortursprung Eisen und denke an Metallsteige).
Mir wird die Situation unangenehm, ich weiß nicht, wo er mich hinführt, und ich kann mich nicht erklären. Aber er ist freundlich und wirkt hilfsbereit und ich mache mir immer wieder klar, dass ich jünger und vermutlich schneller bin und außerdem Karate kann.
Irgendwann erreichen wir sein Auto.
Seine Frau wartet davor, sie reden irgendetwas auf Italienisch miteinander und sehen mich dabei an.
Die Situation stresst mich. Hier fahren nur ganz wenige Busse am Tag, ich habe noch einen Weg vor mir, der mir mit meinem Knie zu weit zu laufen ist.
Und wenn ich den Bus verpasse, habe ich ein Problem!
Die beiden geben mir zu verstehen, dass ich in ihr Auto steigen soll. Immer wieder fällt das Wort „ferrata“, doch ich verstehe nichts, zucke immer wieder demonstrativ mit den Schultern.
Dann zückt der Mann sein Handy, tippt etwas ein und zeigt mir dann eine Übersetzung, die ich nicht verstehe.
Innerlich schlage ich mir mit der Hand vor die Stirn. Warum bin ich nicht schon längst auf die Idee gekommen, ein Übersetzungsprogramm zu nutzen?
Jedenfalls weiß ich jetzt, dass er von „fermata“ spricht, was „Haltestelle“ heißt.
Puh, immerhin haben wir noch das gleiche Anliegen, nämlich meine Busfahrt.
Auch „Vipiteno“ fällt mehrmals, der italienische Name für Sterzing.
Also zücke ich meine Karte und zeige ihnen mein Ziel, nämlich Kematen.
Der Ort liegt an der Straße nach Sterzing. Wenn die Situation sowieso schon so – im wahrsten Sinne – verfahren ist, kann ich sie auch fragen, ob sie mich bis dahin mitnehmen.
Vielleicht war das sogar von vorneherein das Ziel? Ich weiß es nicht.
Dass ich nach „Caminata“ möchte, habe ich jedenfalls mehrmals erwähnt.
Im Auto versuchen wir erneut, mittels Übersetzung zu kommunizieren, aber es ist sehr schwer. Ich versuche es mit einem Mischmasch aus Englisch und Deutsch und manches, was er sagt, dockt an mein Schulfranzösisch an.
Pilzrisotto in Kematen
Nach wenigen Minuten erreichen wir Kematen.
Ich steige aus dem Auto, bedanke mich gestenreich und winke den beiden hinterher.
Da ich zuerst vor dem falschen Hotel stehe, muss ich mich erstmal wieder durchfragen. Aber hier sprechen alle Deutsch und ich erreiche humpelnd und reichlich konfus mein Hotel.
Die Wirtin heißt mich willkommen, während sie mit ihrer Tochter frische Pilze schrubbt, die sie am Nachmittag im Wald gesammelt haben.
Nach dem Duschen und der üblichen Handwäsche meiner Klamotten gibt es leckeres Pilzrisotto. Im Speiseraum sind noch andere Gäste, den Gesprächen entnehme ich, dass manche nicht zu Fuß, sondern mit Fahrrädern die Alpen überqueren.
Das wäre auch noch was, denke ich und gehe nach oben in mein Zimmer.
Noch einmal schlafen, dann ist meine Wanderung zu Ende.
Noch einmal morgens aufstehen, frühstücken und weitergehen.
Noch einmal mit Sack und Pack loslaufen.
Ich schaue aus dem Fenster, sehe die Berge vor mir und lasse den Tag Revue passieren.
Morgen erreiche ich Sterzing!
Gehzeit mit Pausen: 5:30 Std.
Strecke: 14 km
Höhenmeter: 510 hm auf/ 850 hm ab
Wertung Landschaft: 5/5 – Highlight!
So geht es weiter

Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing
Tag 9: Kematen-Sterzing