Meine Alpenüberquerung: Tag 8 – Schlegeisspeicher-Kematen

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Im Hintergrund ein Bergpanorama mit einem türkisfarbenen See, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Tag 8 Schlegeisspeicher-Kematen

Donnerstag, 04. Juli

Schon beim Aufwachen scheint die Sonne in mein Zimmer – was für eine Überraschung! Ich eile zum Fenster und hoffe, dass sich Nebel und Wolken endlich verzogen haben.
Der Schlegeisspeicher liegt hellblau unter mir, die umliegenden Berge werfen Schatten. Die Wolken haben sich fast komplett verzogen und die Sonne ist zu sehen.
Auf dem Alpenhauptkamm liegt Neuschnee und hat den vom Saharastaub gefärbten Altschnee unter sich bedeckt.
Juhu, endlich wieder besseres Wetter!
Das passt perfekt, denn heute werde ich die Grenze nach Italien überschreiten und die kommende Nacht bereits in Südtirol verbringen.
Ich freue mich auf den Tag, mache mich fertig und gehe zum Frühstücken.

Blick von oben auf einen türkisfarbenen Bergsee. Am Ufer erheben sich Berge, leichte Wolken sind am Himmel zu sehen.
Blick aus dem Fenster – einfach nur toll!

Im Gastraum liegen mehrere Stapel Wäsche.
Heiko, der Herbergsvater („Wirt“ wäre eine Untertreibung), hat nicht nur gewaschen, sondern auch alles zusammengelegt und nach Möglichkeit sortiert.
Ich bin begeistert, suche die noch fehlenden Socken und packe alles in meinen Rucksack.
Lars und ich wollen gemeinsam aufs Pfitscher Joch gehen und Heiko rät uns, rechtzeitig loszugehen. “Wenn der erste Bus aus dem Tal hier hochkommt, wird es voll“, erklärt er.

Durch den Zamser Grund zum Pfitscher Joch

Also machen wir uns nach dem Frühstück auf den Weg durch den Zamser Grund hoch zum Pfitscher Joch.
Trotz sehr unterschiedlicher Gehgeschwindigkeiten finden wir ein gemeinsames Tempo und auch viele Gesprächsthemen. Die Schmerzen im Knie sind schnell vergessen und es läuft sich fast von allein.
Zwischendrin muss ich immer wieder innehalten und die Landschaft betrachten. Es ist wunderschön hier oben, und das liegt nicht nur an den letzten beiden vernebelten Tagen!
Die Luft ist frisch, die Landschaft karg, es gibt niedrige Pflanzen, viel Wasser und endlich wieder Sonnenschein. Kühe beobachten uns und wir sind beinahe die einzigen Wanderer hier.

Blick in eine Hochtal. Man sieht Felsen, Wiese, pink blühende Alpenrosen und vereinzelt niedrige Büsche und Bäume. Kühe grasen neben dem Weg.
Der Zamser Grund

Kurz vor dem Pfitscher Joch geht es über einen Geröllpfad etwas steiler hinauf, und dann sind wir plötzlich oben.
Vor uns steht der berühmte Grenzstein zwischen Italien und Österreich, ein Stückchen dahinter das mit Aufklebern übersäte große Schild.
„Willkommen in Südtirol“.
Ich bin in Italien, Wahnsinn!
Zwei andere Wanderer machen Fotos am Grenzstein, wir fotografieren uns gegenseitig, die Stimmung ist gelöst.

Ein großes Schild mit der Aufschrift "Willkommen, bienvenuti, Begngnüs Südtirol Alto Adige". Es steht an einem Weg neben einem kleinen Teich mitten in den Bergen und ist mit Aufklebern übersät.
Vom berühmten Grenzstein aus fotografiert

Das Pfitscherjoch-Haus ragt vor uns empor und wir beschließen eine Einkehr.
Es ist zwölf Uhr und wir haben Glück, dass nicht viel los ist. Also suchen wir uns einen Tisch, bestellen Spaghetti und alkoholfreies Weizen und genießen den Ausblick durch das Fenster.
Doch dann öffnet sich die Tür zur Gaststube und ein nicht enden wollender Strom Menschen kommt herein. Allem Anschein nach kam eine große Gruppe irgendwie mit einem Bus hier hoch, denn die (überwiegend) Seniorinnen tragen allesamt saubere Schuhe und die Kleidung hat teilweise noch Bügelfalten.
Dazwischen stehen immer wieder schmutzige, abgekämpfte Wanderer mit großen Rucksäcken und allerlei Kram, der draußen dranhängt. Der Unterschied könnte nicht größer sein.

War es das etwa schon?

Weil es laut und voll wird, essen wir fertig und gehen dann nach draußen.
Ab hier trennen sich unsere Wege. Wir tauschen Kontaktdaten aus, ich wünsche Lars einen erfolgreichen Weg nach Venedig und nach einer Umarmung geht Lars Richtung Pfitscher Tal, während ich noch ein wenig Zeit hier oben verbringen möchte.
Ich will nicht runter! Ich will hier oben bleiben, ich will die Berge nicht verlassen!
Monatelang habe ich mich auf diese Wanderung vorbereitet, habe geplant, alles wieder verworfen, habe viel gelesen, Bilder angeschaut und Videos und Apps benutzt, um meine ganz individuelle Alpenüberquerung zu planen.
Mein Knie hat die Anstrengung bisher gut mitgemacht, was ich mir im Vorfeld zwar erhofft, aber nicht erwartet hatte.
Und morgen soll alles schon wieder vorbei sein?

Die Landschaft am Pfitscher Joch ist wunderschön, ich würde am liebsten noch bleiben und einfach nur schauen. Ich würde gern einen der vielen anderen Wege nehmen und dabei immer wieder die Perspektive auf dieses schöne Fleckchen Erde wechseln.
Doch ich muss weiter, muss jetzt absteigen, muss hinunter ins Tal.
Die spannenden Etappen, die tolle Landschaft und das Ungewisse liegen jetzt hinter mir. Nur noch eine Stunde bergab, dann geht es nur noch auf Straßen und zwischen Wiesen in Richtung Stadt.

Bergpanorama mit kleinem See im Vrodergrund und hohen Bergen im Hintergrund. Der Himmel ist teilweise bewölkt.
Am Pfitscher Joch

Doch der Weg hinunter ins Tal hat es in sich.
Der Abstieg ist steil, die Belastung für das Knie hoch und ich beschließe, in Stein, dem letzten Ort im Tal – also für mich dem ersten –, den Bus bis nach Kematen zu nehmen.
Für die letzten vier Kilometer bergab brauche ich zwei Stunden und werde ständig von anderen Wanderern überholt. Es ist nicht nur anstrengend, ich bleibe auch immer wieder stehen, mache Fotos, schaue mich um, genieße noch einmal die Berge.
Mein Körper, besonders das Knie, will unbedingt ins Tal und sich ausruhen.
Mein Kopf hingegen will noch lange nicht ins Tal. Mein Kopf will wieder zurück, will andere Wege nehmen, will die Berge, die Sicht, die Luft, die Tiere und Pflanzen – einfach alles.

Io sono tedesca!

Irgendwann erreiche ich Stein/Sasso.
Es ist heiß, die Sonne knallt vom Himmel, ein paar junge Leute mähen die Wiese und harken Gras und Heu zusammen.
Ich vermute die Bushaltestelle unten auf der Hauptstraße – nur wo?
Ein älterer Wanderer steht am Straßenrand und ich spreche ihn an.
„Entschuldigung“, sage ich sehr deutlich, weil ich nicht weiß, welche Sprache er spricht. „Ich suche den Bus“ und betone Bus dabei. Was heißt Bus auf Italienisch? Vielleicht weiß er gar nicht, was ich meine.
Doch er zeigt mit ausgestrecktem Arm zur geteerten Straße und gibt mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich ihm folgen soll.
Wir gehen nebeneinander her, er redet auf Italienisch und ich verstehe ihn nicht.
„Io sono tedesca, ich bin Deutsche“, erkläre ich ihm den einzigen italienischen Satz, den ich kenne.

Bergpanorama. Im Vordergrund ist ein dünner, niedriger Zaun mit einem Durchgang für Tiere zu sehen, weiter hinten erkennt man ein grünes Tal.
Da unten liegt das Pfitschtal, mein Ziel für heute

Er antwortet mir in gebrochenem Deutsch, dass er als junger Mann ein paar Wochen in Frankfurt gelebt hat. Dann wechselt er zwischen Italienisch und Deutsch hin und her und erklärt mir gestenreich, dass seine Großmutter im KZ getötet wurde.
Ich muss schlucken und empfinde Mitleid und Scham zugleich.
Scham und Mitleid für das, was Deutsche vor achtzig Jahren getan haben, aber auch persönliche Scham dafür, dass ich als bekennende Antifaschistin im Ausland trotzdem als Nachfahrin von Verbrechern wahrgenommen werde. Ich würde ihm meine Haltung gern erklären, aber mir fehlen die passenden Worte. Wir haben keine gemeinsame Sprache und es ist schwierig, so über Gedanken und Gefühle zu sprechen.

Ferrata, ferrata!

Wir gehen also nebeneinander her, er erzählt viel und ich verstehe nichts.
Ich frage nach „Bus“ und „Taxi“, er antwortet „ferrata“ und ich glaube, er meint damit die Straße. Zumindest gibt es Klettersteige in den Alpen, die „ferrata“ im Namen tragen (ich tippe auf den Wortursprung Eisen und denke an Metallsteige).
Mir wird die Situation unangenehm, ich weiß nicht, wo er mich hinführt, und ich kann mich nicht erklären. Aber er ist freundlich und wirkt hilfsbereit und ich mache mir immer wieder klar, dass ich jünger und vermutlich schneller bin und außerdem Karate kann.
Irgendwann erreichen wir sein Auto.
Seine Frau wartet davor, sie reden irgendetwas auf Italienisch miteinander und sehen mich dabei an.
Die Situation stresst mich. Hier fahren nur ganz wenige Busse am Tag, ich habe noch einen Weg vor mir, der mir mit meinem Knie zu weit zu laufen ist.
Und wenn ich den Bus verpasse, habe ich ein Problem!

Ein Bergpanorama. Im Vordergrund stehen Bäume an einem Hang, weiter hinten sieht man hohe Berge, teilweise mit Schnee bedeckt. Am Himmel sind ein paar weiße Wolken.
Der Weg vom Pfitscher Joch hinunter ins Pfitscher Tal

Die beiden geben mir zu verstehen, dass ich in ihr Auto steigen soll. Immer wieder fällt das Wort „ferrata“, doch ich verstehe nichts, zucke immer wieder demonstrativ mit den Schultern.
Dann zückt der Mann sein Handy, tippt etwas ein und zeigt mir dann eine Übersetzung, die ich nicht verstehe.
Innerlich schlage ich mir mit der Hand vor die Stirn. Warum bin ich nicht schon längst auf die Idee gekommen, ein Übersetzungsprogramm zu nutzen?
Jedenfalls weiß ich jetzt, dass er von „fermata“ spricht, was „Haltestelle“ heißt.
Puh, immerhin haben wir noch das gleiche Anliegen, nämlich meine Busfahrt.

Auch „Vipiteno“ fällt mehrmals, der italienische Name für Sterzing.
Also zücke ich meine Karte und zeige ihnen mein Ziel, nämlich Kematen.
Der Ort liegt an der Straße nach Sterzing. Wenn die Situation sowieso schon so – im wahrsten Sinne – verfahren ist, kann ich sie auch fragen, ob sie mich bis dahin mitnehmen.
Vielleicht war das sogar von vorneherein das Ziel? Ich weiß es nicht.
Dass ich nach „Caminata“ möchte, habe ich jedenfalls mehrmals erwähnt.
Im Auto versuchen wir erneut, mittels Übersetzung zu kommunizieren, aber es ist sehr schwer. Ich versuche es mit einem Mischmasch aus Englisch und Deutsch und manches, was er sagt, dockt an mein Schulfranzösisch an.

Pilzrisotto in Kematen

Nach wenigen Minuten erreichen wir Kematen.
Ich steige aus dem Auto, bedanke mich gestenreich und winke den beiden hinterher.
Da ich zuerst vor dem falschen Hotel stehe, muss ich mich erstmal wieder durchfragen. Aber hier sprechen alle Deutsch und ich erreiche humpelnd und reichlich konfus mein Hotel.
Die Wirtin heißt mich willkommen, während sie mit ihrer Tochter frische Pilze schrubbt, die sie am Nachmittag im Wald gesammelt haben.
Nach dem Duschen und der üblichen Handwäsche meiner Klamotten gibt es leckeres Pilzrisotto. Im Speiseraum sind noch andere Gäste, den Gesprächen entnehme ich, dass manche nicht zu Fuß, sondern mit Fahrrädern die Alpen überqueren.
Das wäre auch noch was, denke ich und gehe nach oben in mein Zimmer.

Pilzrisotto und überbackene Auberginen auf einem weißen Teller.
Risotto mit frischen Waldpilzen und überbackenen Auberginen

Noch einmal schlafen, dann ist meine Wanderung zu Ende.
Noch einmal morgens aufstehen, frühstücken und weitergehen.
Noch einmal mit Sack und Pack loslaufen.

Ich schaue aus dem Fenster, sehe die Berge vor mir und lasse den Tag Revue passieren.
Morgen erreiche ich Sterzing!

Gehzeit mit Pausen: 5:30 Std.
Strecke: 14 km
Höhenmeter: 510 hm auf/ 850 hm ab
Wertung Landschaft: 5/5 – Highlight!

So geht es weiter

Im Hintergrund der alte und berühmte Uhrturm in der Altstadt von Sterzing, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Tag 9 Kematen-Sterzing

Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing
Tag 9: Kematen-Sterzing

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Meine Alpenüberquerung: Tag 7 – Hochfügen-Dominikushütte

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Im Hintergrund ein Bergpanorama mit pink blühenden Alpenrosen, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Tag 7 Hochfügen-Dominikushütte

Mittwoch, 03. Juli

Nach einem opulenten Frühstück starte ich um 8.30 Uhr den siebten Tag meiner Alpenüberquerung.
Der Normalweg führt auf einem breiten Wirtschaftsweg aus Hochfügen heraus, geht mit leichter Steigung weiter ins Tal hinein und erst später richtig in die Höhe.
Ich entscheide mich für einen anderen Weg in Richtung Rastkogelhütte und steige schon direkt im Ort zur höher gelegenen Holzalm auf.
Puh, ist das anstrengend!
Liegt es am guten Frühstück? Oder braucht mein Körper nach sechs teilweise abenteuerlichen Wandertagen mal eine Pause? Und auch mein Knie schreit mich an, allerdings nicht vor Begeisterung.

Ein altes, verwittertes Bauernhaus aus dunklem Holz. An der Hauswand hinter dem Balkon hängt ein großes Kruzifix.
Ein Gebäude nahe der Holzalm

Jedenfalls komme ich nur im Schneckentempo vorwärts und muss immer wieder anhalten. Peu á peu schleiche ich nach oben und kann immer wieder auf die Dächer von Hochfügens Hotels schauen (und auch auf den riesigen Asphalt-Parkplatz). Schön ist anders – nur wo? Ich schaue mich um. Hier oben ist es genauso neblig wie gestern am Kellerjoch. Das muss ja nun wirklich nicht sein!

Nicht schon wieder Nebel!

Der Blick nach unten auf den Ort ist halbwegs frei, und so sehe ich die anderen Alpenüberquerer in kleinen Grüppchen gemütlich auf dem Wirtschaftsweg wandern.
Allein das Wissen, dass alle früher oder später nach oben müssen, verhindert, dass ich mich über meine (mal wieder) Extratour ärgere.

Blick in ein schmales Tal. Man sieht Wiesen und Wälder und einen schmalen Weg. Der Himmel ist wolkenbedeckt.
Da unten läuft man bestimmt entspannter!

Der Weg zwischen Holzalm und Viertelalm Niederleger ist schön und ich vermute tolle Weitblicke – wenn man mal mehr als zwanzig Meter weit gucken kann …
Niederleger und Oberleger sind übrigens Teil der Dreistufenwirtschaft in den Alpen. Im Frühjahr kommt das Vieh zum Niederleger, im Sommer dann zum Oberleger und im Herbst wieder zurück ins Tal, manchmal auch mit Zwischenstopp auf dem Niederleger. Das habe ich nachgeschlagen, weil ich hier immer wieder über die Begriffe stolpere.
Zwischen Niederleger und Oberleger (also unteren und oberen Almen) der Viertelalm gibt es einen Serpentinenweg – oder eine Abkürzung. Ich entscheide mich für den kürzeren Weg, wohlwissend, dass er steiler sein wird als der Serpentinenweg.

Leuchtkeks zwischen Alpenrosen

Nun, was soll ich zu der Abkürzung sagen?
Ich kämpfe mich bei einer Sicht von wenigen Metern durch ein Meer von Alpenrosen. Immer wieder bleibe ich stehen, schnaufe und schaue mich um. Bei Sonnenschein muss es hier wunderschön sein!
Aber bei Sonnenschein ist es bestimmt schrecklich heiß und die Sonne knallt erbarmungslos herunter, versuche ich mir meine aktuelle Lage schönzureden.
Für den Weg brauche ich eine halbe Stunde. Zum Glück habe ich direkt beim Start am Hotel alles, was ich an hellen und neonfarbenen Kleidungsstücken habe, angezogen! Logisch, dass auch mein Rucksack wieder im leuchtend orangenen Kleidchen steckt.
Ich bin komplett alleine auf diesem Weg. Sollte mir hier irgendwas passieren und man sucht mich, will ich auch entdeckt werden. Wobei mich bei dem Nebel vermutlich niemand suchen würde.
Seufz.

Ein Nadelbaum steht zwischen pink blühenden Alpenrosen, alles ist in Nebel getaucht und wirkt fast mystisch.
Ich glaube, hier ist es sehr schön!

Oben am Hochleger der Viertelalm angekommen, führt der Weg moderat weiter in Richtung Rastkogelhütte. Die Sicht ist nach wie vor sehr eingeschränkt und ich habe teilweise Mühe, den schmalen Pfad zu entdecken.
Laut meinem Wanderführer eröffnet sich hier irgendwo ein „unglaublicher Blick auf den Alpenhauptkamm“. Ich bin froh, dass ich überhaupt den Weg sehen kann und entscheide mich gegen den weiteren Aufstieg aufs Kreuzjoch.
Was soll ich auch bei dem Nebel da oben, von der Gefährlichkeit des Ganzen einmal abgesehen?
Also folge ich den Schildern zur Rastkogelhütte.
Jetzt bin ich also auf 2.124 Meter Höhe und sehe doch nichts weiter als das Dach der Rastkogelhütte und ein bisschen vom Grundstück.

Die Rastkogelhütte

Ziemlich enttäuscht gehe ich zur Hütte, um etwas zu trinken und mir einen Stempel für die Etappe zu holen. Drinnen trifft mich jedoch fast der Schlag. Die Hütte ist übervoll mit Menschen, es ist heiß und eng, im Vorraum steht alles voll mit Rucksäcken, Wanderstöcke hängen an der Garderobe und es ist laut.
Das ist das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, also gehe ich kurz zur Toilette, stemple mein Stempelheft ab und verlasse die Hütte wieder.

Man schaut von oben über einen Berggrat auf eine weiter unten gelegene Berghütte. Die Umgebung ist komplett vernebelt, man sieht nur die Hütte.
Gerüchten zufolge hat man von hier aus einen fantastischen Blick über den Alpenhauptkamm

Leider hat sich auch der Nebel in der kurzen Zeit nicht verzogen. Ich weiß, dass hier überall Berge sind, dass man einen grandiosen Blick über unzählige, teilweise schneebedeckte Gipfel haben kann und dass überall blühende Alpenrosen wachsen.
Aber ich sehe so gut wie nichts.
Enttäuscht nehme ich den Wirtschaftsweg Richtung Melchboden. Den Abzweig hoch zum Mitterwandskopf erspare ich mir.
Wenigstens wird der Weg irgendwann zu einem schmalen Pfad zwischen leicht unwegsamem Gelände und bietet ein wenig Abwechslung. Hier sind auch andere Wanderer unterwegs, und nach einer Dreiviertelstunde erreiche ich die Jausenstation Melchboden.

Ein Blick ins Zillertal

Von hier aus fährt ein Shuttlebus ins Tal.
Der Bus ist gut gefüllt mit Menschen, Rucksäcken und Hunden und der Fahrer erzählt, dass bei schönem Wetter kaum alle Leute in den Bus passen, die mitfahren wollen.
Ich sitze am Fenster und genieße den Ausblick.
Endlich haben sich die Wolken ein wenig verzogen und ich kann mir das erste Mal das Zillertal anschauen. Bisher war mir ja nahezu jeder Blick verwehrt worden.
Im Tal fahre ich mit dem Zug von Ramsau nach Mayrhofen.
Unten tobt das Leben, überall bewegen sich Menschen, Autos, Busse und stehen Wohnhäuser und Geschäfte. Oben herrscht noch immer Nebel.
In Mayrhofen habe ich eine halbe Stunde Zeit, bis mein Bus zum Schlegeisspeicher fährt, wo ich ein Bett in der Dominikushütte reserviert habe.

Ein fast typisches Alpenpanorama, allerdings hängen Regenwolken tief über den Gipfeln.
Blick vom Melchboden ins Zillertal

Plötzlich fühle ich mich leer und irgendwie fehl am Platz.
Die anderen Alpenüberquerer aus dem Shuttlebus gehen zu ihren Unterkünften in Mayrhofen, freuen sich auf die Dusche, das Bett, ein leckeres Essen.
Ich humple mit schmerzendem Knie an einer Großbaustelle vorbei in den kleinen Ort und hole mir ein Brötchen. Lustlos mache ich ein paar Fotos und humple zurück zum Bahnhof.
Nur: Wo bleibt der Bus? Er hätte schon längst da sein müssen!
Der Blick auf den Fahrplan irritiert mich noch mehr. Irgendwas stimmt hier nicht. Dann suche ich das Kleingedruckte – na super!
Wir haben Vorsaison und der Bus fährt erst ab nächster Woche halbstündig. Heute fährt er nur einmal in der Stunde, ich habe also immer noch zwanzig Minuten Zeit.
Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich entspannter durch Mayrhofen geschlendert.
Also hole ich mir am Kiosk ein Eis, setze mich auf eine Bank und beobachte das laute Leben am Bahnhof Mayrhofen.

Am Schlegeisspeicher

Der Bus zum Schlegeisspeicher kommt tatsächlich pünktlich und bringt mich und ein paar andere Fahrgäste ins Zemmtal. Noch vor der Mautstation sind alle anderen ausgestiegen und mir wird mulmig. Ich habe keinerlei Ortskenntnis, der Fahrer fährt für mein Gefühl viel zu schnell und der Bus knirscht, quietscht und klappert lauter, als es mir behagt.
Und dann kommt die Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Die Busfahrt dauert so lange, der Fahrer rast durchs Gebirge – und ich bin der einzige Fahrgast. Und jetzt fahren wir auch noch durch einen langen Tunnel mitten durch den Berg!
Krimiplots jagen durch meinen Kopf, aber auch Unfallgeschichten von Polizei und Bergwacht. Können wir nicht ein bisschen langsamer fahren?
Plötzlich ragt die hohe und steile Staumauer des Schlegeisspeichers vor uns auf. Ich denke nicht mehr über Krimiplots nach, sondern über die Fertigkeiten von Bauingenieuren – und es fühlt sich kein bisschen besser an.
Doch irgendwann erreichen wir die Haltestelle ganz oben auf dem Parkplatz und ich steige erleichtert aus. Von hier aus sehe ich schon die Dominikushütte oberhalb und gehe erleichtert darauf zu.

Zwischen Büschen hindurch kann man auf einen hellblauen künstlichen See blicken. Die Wolken hängen so tief, dass man von den umliegenden Bergen nichts sieht.
Der Schlegeisspeicher

In der Hütte werde ich sogleich von Wirt und Herbergsvater Heiko empfangen.
Ich habe Glück und das Haus ist nicht ausgebucht, sodass ich ein Zimmer für mich alleine habe.
Er zeigt mir die Duschen und einen Korb für meine Wäsche.
Ich kann es kaum fassen, aber hier gibt es tatsächlich einen Wäscheservice, für alle und ohne Aufpreis. Schon das zweite Mal auf meiner Tour!
Der Tag heute war lang, und nach der Dusche und nachdem ich mein Knie eingecremt habe, gehe ich in den Speiseraum.

Ende gut, alles gut

An einem großen Tisch sitzt ein Wanderer etwa in meinem Alter. Ich frage, ob ich mich dazusetzen kann, und wir kommen ins Gespräch. Lars ist auf dem Traumpfad von München nach Venedig unterwegs.
Ich bin sehr beeindruckt. Mir stecken schon meine bisher sieben Wandertage in den Knochen und ich komme jeden Morgen schlechter los.
Er möchte am nächsten Tag ebenfalls hoch zum Pfitscher Joch und wir verabreden, zumindest ein Stück gemeinsam zu gehen.

Lars ist der erste engere Kontakt, den ich auf meinem Weg knüpfe.
Im Hotel in Hochfügen und während der Zugfahrt nach Mayrhofen habe ich gemerkt, dass sich viele andere Alpenüberquerer mittlerweile kennengelernt und teilweise Wanderfreundschaften geschlossen haben.
Sowas passiert natürlich, wenn man sich immer wieder auf dem Weg begegnet, abends vielleicht die Unterkunft oder das Restaurant teilt und täglich das gleiche Ziel hat. Genau dieses Gemeinsame hat den Jakobsweg für mich so schön gemacht.
Da ich jedoch größtenteils andere Wege genommen habe, ist mir niemand ein zweites Mal begegnet. Die Studierenden aus der Pizzeria in Achenkirch oder das Paar, das mich am Achensee fotografiert hat, sind längst in Sterzing angekommen. Und diejenigen, die mit mir auf der Gufferthütte oder der Erfurter Hütte waren, haben ganz andere Wege genommen.
Meine Erwartung, ganz bestimmt andere Wanderer kennenzulernen, hat sich bisher nicht erfüllt, und spätestens im Pfitscher Tal Richtung St. Jakob verteilt sich ohnehin alles auf verschiedene Unterkünfte.

Zwei unterschiedliche Knödel auf einem weißen Teller, dazu verschiedene Salate.
Knödelduo

Aber es war meine ganz bewusste Entscheidung, den Weg abzuändern und eben nicht im Strom mitzulaufen, deshalb ist es auch okay für mich.
Jedenfalls sind die Gespräche mit Lars ist eine schöne Abwechslung, und nach einem Knödelduo und zwei Bier schlafe ich ein.

Gehzeit mit Pausen: 5:00 Std.
Strecke: 11 km
Höhenmeter: 800 hm auf/ 240 hm ab
Wertung Landschaft: 5/5

So geht es weiter:

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Meine Alpenüberquerung: Tag 6 – Baumannwiesköpfl-Hochfügen

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Im Hintergrund ein Bergpanorama mit Nebel und Regenwolken, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Tag 6 Baumannwiesköpfl-Hochfügen

Dienstag, 02. Juli

Der heutige Tag wird mich über das Spieljoch bis nach Hochfügen, den populären Skiort im Zillertal, führen.
Da mir ein paar Kilometer bevorstehen, stehe ich zeitig auf und gehe um 7.30 Uhr nach unten zum Frühstück. Der Tisch im Gastraum des Baumannwiesköpfls ist reichlich gedeckt, es riecht nach frischem Kaffee und Rührei. Doch beinahe noch schöner als die Leckereien auf dem Tisch ist der Kleiderstapel auf der Eckbank.
Meine verschwitzte und schmutzige Kleidung von gestern – gewaschen und getrocknet!
Ich bin der Wirtin sehr dankbar und es tut mir fast leid, dass ich so schnell wieder weitermuss.
Beim Abschied erzählt sie mir, dass es vorgestern bei dem Unwetter einen Murenabgang am Achensee gegeben habe. Die Straße war vorübergehend gesperrt und auch der Mariensteig/Gaisalmsteig war betroffen.
Puh, zum Glück hatte ich mich beeilt, um rechtzeitig vor dem Unwetter auf der Erfurter Hütte zu sein!

Wolken

Heute ist es zwar trocken, aber immer noch stark bewölkt. Doch die Regenwahrscheinlichkeit ist laut Wetterapp geringer als gestern. Na immerhin!
Auf einer Straße und einem breiten Forstweg geht es in anfangs leichtem, später stärkerem Auf und Ab in Richtung Kohleralmhof oberhalb von Fügen. Dort befindet sich die Mittelstation der Spieljochbahn.
Natürlich hatte ich überlegt, ob ich bis aufs Spieljoch laufen oder lieber die Bahn nehmen soll, aber mein Knie hat mir die Entscheidung abgenommen. Die Wanderung macht sich immer stärker bemerkbar, auch wenn sich der Schmerz in Grenzen hält. Aber ich muss es ja nicht übertreiben.
Unter mir liegt das Zillertal, von dem ich ab und zu sogar etwas sehe.
Im Großen und Ganzen ist es jedoch ziemlich bewölkt und der erhoffte Fernblick fällt aus.
Eine Freundin war zwei Wochen vorher mit dem Wohnmobil im Zillertal. Vielleicht frage ich sie einfach nach Fotos und schaue mir das Zillertal hinterher auf Bildern an, denke ich mir, während ich durch die Nebelwand – oder sind es Wolken? – stapfe.

Blick von oben über ein breites bebautes Tal. Die Wolken hängen tief und zwischen den Wolken erkennt man die Berge.
Blick ins vordere Zillertal

Mit der Spieljochbahn fahre ich von der Mittelstation in wenigen Minuten hoch zur Bergstation.
Oben angekommen, gehe ich erstmal für ein Spiegelselfie zum Waschraum. Als Alleinreisende muss man kreativ sein!
Erwartungsvoll verlasse ich das Gebäude der Bergstation – und kehre direkt wieder um.
Puh, ist das kalt da draußen!
Endlich zahlt es sich einmal aus, dass ich all meine Klamotten mit mir herumtrage. Ich ziehe mir also eine Jacke an, wickle einen Schlauchschal gegen die Kälte um den Hals und den zweiten, in neongelb und mit Reflektoren versehen, für die Sichtbarkeit ums Handgelenk.
Und, klar: Der Rucksack bekommt mal wieder sein orangefarbenes Überkleid.
Ob ich auch irgendwann mal wieder ohne Regenhaube wandern kann?
Also gibt es nur wenige Minuten nach dem ersten Spiegelselfie ein zweites mit wärmeren Klamotten.

Nebel und Kälte

Aber jetzt!
Es ist nicht nur kalt auf dem Spieljoch, sondern auch voll. Weiter oben auf dem Onkeljoch steht sogar schon eine Schlange vor dem Gipfelkreuz, also spare ich mir diesen kleinen Umweg.
Bei dem Nebel würde ich ja sowieso nichts sehen.
Nach einigem Hin und Her rund um die Bergstation finde ich endlich einen Wegweiser mit dem Ü, der mich in Richtung Hochfügen leitet. Ab hier werde ich bis zum Ende meiner Wanderung in Sterzing den „Normalweg“ nehmen.
Dass ich den Weg nicht sofort finde, ist aber eigentlich egal. Das Spieljoch ist mit Wanderwegen auf jeder nur denkbaren Höhe ausgestattet, sodass es im Grunde egal ist, welchen davon ich nach Hochfügen nehme.

Ein ausgestreckter Arm mit einem hellen Ärmel und einem neongelben Tuch am Handgelenk weist mit geöffneter Hand auf Nebel.
Wie Sie sehen, sehen Sie nichts

Da ich nicht oben auf dem an sich viel spannenderen Grat laufe, bin ich alleine unterwegs und stapfe Richtung Hochfügen, ohne dass mir jemand anderes begegnet. Der Weg entpuppt sich als ziemlich langweilig: Es ist neblig und ich habe keine Fernsicht und der breite Wirtschaftsweg bietet keinerlei Abwechslung.
Ab und zu haben die dichten Wolken eine Lücke und ich kann ins Zillertal schauen. Meistens ist es aber trüb und ohne Sonne auch recht kühl.
Gelegentlich zweigen Wege links oder rechts ab, aber ich folge einfach dem breiten Wirtschaftsweg. Irgendwo unterwegs soll es auch Almhöfe geben, aber bei diesem Wetter habe ich keine Lust, einzukehren. Dann laufe ich lieber direkt nach Hochfügen und entspanne ein wenig im Hotel.
Bei der Fußball-EM der Herren spielt Österreich heute gegen die Türkei – vielleicht findet sich ja eine Gelegenheit, das Spiel in Gesellschaft zu schauen, am besten sogar noch in österreichischer!

Schafe und Bruno, der Problembär

Doch erstmal muss ich nach Hochfügen kommen.
Mittlerweile kann ich im Nebel kaum noch etwas sehen. Ich laufe an einer Steinmauer vorbei und stelle mir vor, ich wäre jetzt in Schottland und hinter der Mauer wären Schafe. Wenn man schon nichts sieht, kann man sich wenigstens etwas ausdenken!
Ein weiterer Abzweig erscheint im Dunst. Das Ü auf dem Wegweiser will mich in die Höhe schicken, zu einem schmalen Pfad zwischen Hangwiesen und Alpenrosenbüschen. Das ist bestimmt ein schöner Weg – aber ich kann den weiteren Verlauf nicht sehen und habe ehrlich gesagt auch keine Lust, in die Höhe zu steigen, um dort dann trotzdem nur durch Nebel zu waten.
Also spare ich mir den Aufstieg und bleibe auf dem breiten Weg.

Nebel. Eine niedrige Mauer aus gestapelten Natursteinen ist kaum sichtbar, die Wiese verschwindet im Nebel. Man sieht ein Stück eines breiten Weges und ahnt, dass es hinter der Mauer bergauf geht.
Schottland? Nein, das Zillertal.

Irgendwann erreiche ich eine Wegkreuzung.
„Bruno Bärenweg“ steht auf dem Schild.
Natürlich klingelt es bei Bruno, das war doch der Problembär, oder?
Im Frühsommer 2006 wanderte er aus dem Trentino nach Österreich und tauchte bei seiner Wanderung auch mehrmals in Bayern auf. Dort wurde er sogleich als problematisch angesehen und zum Abschuss freigegeben. Ende Juni 2006 wurde er dann folgerichtig in Bayern getötet und kann seitdem ausgestopft bewundert werden – natürlich in Bayern.
Hier im Zillertal hat er ebenfalls mehrmals Station gemacht, u.a. auch auf dem Gebiet der Gartalm, wo ich mich gerade befinde. Der Wanderweg folgt seinen Spuren und ich mache mich ebenfalls daran, durch das umzäunte Ziegen- und Ponygehege zu gehen.
Mit dem schweren Rucksack komme ich mir ein bisschen vor wie ein Bär, zumindest was die Eleganz meiner Bewegungen angeht.

Ein Holzschild an einem Nadelbaum mit dem Text: Ein Bär auf den Spuren seiner Ahnen Bär Bruno, stammend aus dem Trentino, wanderte am 30.Mai 2006 von Bayern kommend übers Spieljoch, hierher zum Gartalm-Hochleger. Bestätigt von Experten des WWF durch gefundene Haare und Kratzer an der Hüttenwand. Die Spuren führten weiter bergab Richtung Gartalm-Niederleger.
Ob sich Bruno der Problembär an diesem Baum gerieben hat?

Noch mehr Tiere

Von dem „Normalweg“, den ich ja eigentlich gehen wollte, ist hier jedoch nichts zu sehen. Der führt viel weiter oben am Berg entlang, und meinem Reiseführer und den Karten zufolge ist es ein schöner, schmaler Weg mit tollen Panoramablicken.
Mir bleibt nur, mich seufzend auf einem viel tiefer gelegenen Weg Richtung Hochfügen zu bewegen.
Immerhin hat es aufgeklart und ich kann mein Ziel in der Ferne sehen.
Der Weg wird scheinbar nicht oft benutzt; Büsche wachsen wild und Bäume liegen quer. Zumindest ist es hier nicht mehr so langweilig, denke ich, als ich ein Rascheln im Gebüsch höre.

Ich bleibe stehen und blicke in das wackelnde Gestrüpp.
Es dauert einen Moment, bis ich erkennen kann, wer das Geräusch verursacht.
Eine Schlange!
Ich beobachte sie fasziniert, während sie sich über die Äste schlängelt. Ist das eine Kreuzotter? Eine Ringelnatter?
Leider kenne ich mich mit Schlangen überhaupt nicht aus, schon gar nicht mit Schlangen im Alpenraum.
Mehr als eine Minute lang hocke ich vor dem Busch und beobachte die Schlange, doch irgendwann ist sie verschwunden und ich gehe weiter.
Ob ich noch eine entdecke? Meine Aufmerksamkeit ist geschärft, immer wieder bleibe ich stehen, um auf Geräusche zu achten. War die Schlange eigentlich giftig? Und was wäre gewesen, wenn sie mich gebissen hätte? Wie hätte ich sie von mir fernhalten können?
So langsam wird mir doch ein wenig mulmig.
Aber ich habe Glück– oder Pech? – und entdecke keine Schlange mehr.

Nahaufnahme eines Gebüschs. Zwischen den Zweigen sieht man den Kopf und Teile des Körpers einer Schlange. Das Muster besteht aus hellem und dunklem Zickzack.
Schlange? Ringelnatter? Kreuzotter?

Nach einiger Zeit komme ich an eine Weggabelung.
Von oben kommen einige Wanderer: allein, zu zweit, in Grüppchen.
Okay, jetzt bin ich wohl definitiv auf dem „Normalweg“ und laufe mit einigen anderen Richtung Hochfügen.
Da es hier weit und breit nichts anderes als die Bettenburg Hochfügen gibt, handelt es sich ganz bestimmt ebenfalls um Alpenüberquerer. Den kleinen Rucksäcken zufolge wandern viele davon mit Gepäckservice.

Hochfügen

Hochfügen selbst ist ein Schock.
Der Ort besteht fast nur aus Beton und Asphalt, ein riesiger Parkplatz deutet an, wie viele Menschen den kleinen Ort in der Skisaison heimsuchen.
Jetzt liegt Hochfügen wie ausgestorben da und die vielen Alpenüberquerer sind wahrscheinlich die einzigen Touristen, die diesen Ort im Sommer besuchen.
Da es sich ohnehin nur um eine Nacht handelt, ist es erträglich.
Aber zum Sommer- oder Wanderurlaub suche ich mir definitiv andere Orte.

Fernblick über ein Hochtal, die Berghänge haben Weiden und Nadelwälder, dazwischen sieht man helle Wege. Am Horizont ist ein weiterer Gebirgszug mit ähnlichem Aussehen. Der Himmel ist bewölkt mit wenigen kleinen hellblauen Lücken.
So sieht Hochfügen noch ganz schön aus

Das Hotel selbst ist hochpreisig, aber es gibt eine Wanderpauschale mit Halbpension.
Mit meinem großen Rucksack und den Bergstiefel fühle ich mich underdressed. Beim Check-In stehen zwar auch viele andere Wanderer, aber nicht wenige von ihnen haben Koffer oder Reisetaschen vom Gepäckservice dabei.
Zum Abendessen kann ich nur Funktionsklamotten tragen, wohingegen viele andere Wandergäste in Alltagskleidung und in passenden Schuhen erscheinen. Erst als drei junge Männer mit olivgrünen Wanderklamotten und schweren Stiefeln ins Restaurant kommen, fühle ich mich nicht mehr so deplaziert.
Beim Essen bin ich wegen des vielen Bestecks und der Reihenfolge verwirrt, aber ich sehe auch, dass ich nicht die Einzige mit dem Problem bin.

Auf einem blauen Teller liegt eine weiße Scheibe cremigen Nachtischs, kunstvoll angerichtet mit Obst und dünnen Soßenstreifen.
Feines Kokosparfait

Im Nebenraum läuft der Fernseher und zwei junge Männer schauen sich ein Fußballspiel an.
Hmm, ich hatte mir ein bisschen mehr Stimmung erhofft, immerhin bin ich doch in Österreich und es geht im Achtelfinale ums Weiterkommen in der EM.
Also gehe ich nach dem Essen nach oben in mein Zimmer, lege mich aufs Bett – und schlafe während des Sieges der Türkei gegen Österreich ein.

Gehzeit mit Pausen: 4:30 Std.
Strecke: 19 km
Höhenmeter: 660 hm auf/ 740 hm ab
Wertung Landschaft: 4/5

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Meine Alpenüberquerung: Tag 5 – Erfurter Hütte-Baumannwiesköpfl

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Blick auf einen schmalen Pfad im Wald, links geht es steil nach unten.

Montag, 01. Juli

Die Nacht in dem großen Bettenlager der Erfurter Hütte war ruhig. Außer dem Pärchen auf der anderen Seite der Holzwand kam niemand mehr dazu und ich hatte meine Nische für mich alleine.

Nach dem Frühstück nehme ich eine der ersten Gondeln nach unten.
Wieder bin ich alleine mit dem Gondelschaffner in der Kabine und wir sprechen über das gestrige Unwetter. Für ihn gehört sowas zwar nicht zum Alltag, kommt aber immer wieder vor. Für mich war es ein besonderes Erlebnis, vor allem der unfassbare Lärm vom prasselnden Hagel auf dem Blechdach.
Vom Achensee ist bei der Fahrt wenig zu sehen, graue Wolken hängen tief über dem See. Nur ab und zu blitzt ein wenig Hellblau durch das dunkle Grau.
Auch der Wetterbericht verspricht mir keine Sonne.
Deshalb ist mein Rucksack mal wieder in seine orangefarbene Regenhülle gepackt, ich trage Regenjacke und Hut und meine Bauchtasche steckt in einem Gefrierbeutel (ein kostengünstiger Regenschutz, man muss nur den Boden aufschneiden und kann dann die Bauchtasche durchschieben).
Meine Regenhose liegt zu Hause. Einerseits habe ich natürlich auf besseres Wetter gehofft, andererseits trocknet meine Wanderhose schnell, falls sie nass wird.

Eine gelbe Kirche mit hohem Uhrturm steht auf einer Wiese. Im Hintergrund sieht man Berge und dunkle Regenwolken. Man sieht, dass es regnet.
Die Notburgakirche in Eben

Kaum bin ich in dem Waldstück neben der Straße, dem Notburgasteig, fängt es an zu regnen. Na super.
An der Notburgakirche in Eben mache ich Halt, korrigiere noch einmal den Sitz meiner Regenkleidung und laufe erstmal planlos hin und her, bis ich endlich den Weg finde.

Regen – und ein Kaffee in Jenbach

Auf einem teilweise ziemlich schmalen Kreuzweg durch den Wald geht es hinunter nach Wiesing und weiter nach Jenbach, immer an der Strecke der Zahnradbahn entlang. Durch den vielen Regen ist es nass und rutschig und ich muss mich gut konzentrieren.
Der offizielle Weg der Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing sieht vor, von Maurach über Jenbach bis nach Fügen im Zillertal mit eben jener Zahnradbahn (oder dem Bus) zu fahren. Das ist bestimmt ein Erlebnis, aber ich möchte diese Etappe lieber laufen, auch wenn ich dadurch einen weiteren Tag länger unterwegs bin.
Als ich in Jenbach ankomme, muss ich zuerst durch ein Wohngebiet laufen. Zum Glück hat es aufgehört zu regnen und ich kann meine Regenjacke wieder ausziehen. Obwohl sie atmungsaktiv sein soll, bin ich klatschnass. Ich möchte lieber nicht wissen, ob das Regen oder Schweiß ist, sondern will mich einfach nur wieder frei fühlen.

Mittlerweile ist es Mittag und ich frage mich in Jenbach zu einem Café durch.
Das liegt zum Glück gleich neben einem Supermarkt und ich kaufe neue Müsliriegel und Obst. Die Pause bei Kaffee und Gebäck tut gut und ich blicke leicht mulmig auf den Bergrücken vor mir.
Es sind die Tuxer Alpen, dahinter befinden sich die Zillertaler Alpen und damit der Alpenhauptkamm. Von hier aus sieht es noch nicht so wild aus, trotzdem muss ich erstmal das Inntal verlassen und wieder in die Berge kommen.
Und zwar heute noch!
Hoffentlich irrt sich der Wetterbericht und es bleibt trocken …

Eine Holzbrücke mit einem Holzdach führt über einen Fluss. In der Mitte der Brücke hängt ein Holzschild mit der Aufschrift "Ohne Brugge übern Yn St. Nothburg 1265-1313". Darüber eine Schnitzerei mit einem Wagen, der von einem Ochsen gezogen wird.
Die Brücke über den Inn – beinahe die Hälfte der Alpenüberquerung ist geschafft!

Eine Stunde später überquere ich den Inn.
Der Fluss markiert fast die Hälfte meiner gesamten Tour, also mache ich Fotos und schicke meiner Familie eine Nachricht. Die Glückwünsche machen mich stolz und mir wird deutlich, was ich schon alles geschafft habe, auch wenn es sich noch gar nicht so anfühlt.
Hinter dem Inn geht es direkt ordentlich nach oben.

Hindernisse

Mein Ziel ist der Alpengasthof Baumannwiesköpfl oberhalb von Schlitters im Zillertal. Es gibt mehrere Wege mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden dorthin. Ich entscheide mich für den Weg übers Schrofenmarterl. Der soll schön sein und nicht besonders schwierig.
Der Weg nach oben führt über eine asphaltierte Straße und ist ermüdend langweilig, sodass ich mich freue, als es endlich nach rechts in einen Waldweg geht.
Doch was ist das? Ein handgeschriebenes Verbotsschild?
Ich schaue mich um. Vor mir geht ein älteres Ehepaar spazieren. Ich vermute, dass es Einheimische sind, und entscheide mich deshalb, das provisorische Verbotsschild ebenfalls zu ignorieren.
Ein Naturpfad im Wald – das ist genau das, was ich jetzt brauche!
Leider ist es immer noch stark bewölkt und ich befürchte, dass ich oben nicht viel von der Landschaft sehen werde. Schade!

Zehn Minuten später stehe ich vor dem nächsten, ähnlich improvisiert wirkenden Verbotsschild.
Immerhin gibt es eine zeitliche Begrenzung, nämlich vom 15.01.-15.05.
Nun gut, das ist jetzt sechs Wochen her. Bestimmt hat jemand vergessen, die Schilder zu entfernen. Jedenfalls bin ich froh, das erste Verbotsschild ignoriert zu haben – offenbar kommt man ja trotzdem durch.
Ich gehe also weiter bergauf – bis ich vor einer riesigen Wegsperrung aus schwerem Drahtseil stehe. Okay, das ist eindeutig.
Genervt gehe ich wieder zurück und ärgere mich über die verlorene Zeit und die unnötig verbrauchte Energie.
Doch wie heißt es so schön?
Aufstehen, Krone richten, weitergehen.

Also mache ich erstmal eine Pause und suche mir mithilfe von Karten und meiner Wanderapp einen neuen Weg zum Baumannwiesköpfl.
Ich finde eine Straße. Das ist nicht die schönste Lösung, aber wohl die sicherste. Wer weiß, was sich hinter dem harmlosen Grün auf den Karten verbirgt!
Ich folge der relativ steilen Straße und schaue regelmäßig zurück ins Inntal. Hinter Jenbach erhebt sich der Rofan. Wow, da oben habe ich heute gefrühstückt!
Mir kommt es vor, als läge mindestens ein Tag dazwischen.

Die Landschaft hat sich verändert und das Inntal ermöglicht interessante Weitblicke. Zu meiner Linken geht es manchmal so steil hinab, dass ich froh bin, hier nicht mit dem Auto langzufahren.
Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen!
In einer Haltebucht in einer Straßenkehre krame ich meine Regensachen wieder hervor und quäle mich weiter nach oben.
Es regnet in Strömen, ich laufe – nein, ich keuche! – eine asphaltierte, steile Serpentinen-Straße einen Berg hinauf und habe keine Ahnung, wie weit ich noch laufen muss. An manchen Stellen hängen die Felsen tief über der Straße und ich gehe langsam um die Kehren herum, immer auf Fahrzeuge achtend.
Die Griffe meiner Stöcke sind rutschig, meine Hände werden kalt, die Hose klebt an den Oberschenkeln und ich schwitze in meiner Regenjacke.
Logisch, dass mir bei diesem Wetter und auf diesem Weg keine Fußgänger begegnen. Selbst Fahrzeuge fahren hier kaum.

Im Vordergrund steht ein typisches Alpenhaus, dahinter erstreckt sich ein breites Tal und auf der gegenüberliegenden Seite ein hoher Bergrücken. Dicke graue Wolken verschleiern die Sicht, man sieht, dass es regnet.
Der Eingang vom Zillertal

Dieser Weg ist definitiv der Tiefpunkt meiner bisherigen Wanderung.
Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, und mühsam quäle auch ich mich nach oben.
Irgendwann muss ich die Straße verlassen, nur um dann auf einer anderen Straße wieder bergab zu laufen. Bin ich wirklich noch richtig? Mein Ziel liegt eigentlich rechts oberhalb von mir, warum muss ich jetzt links nach unten gehen? Ist mein Handy nass geworden und zeigt mir den falschen Weg?
Ich kontrolliere mehrmals, aber ich scheine noch auf dem richtigen Weg zu sein. Mittlerweile geht es nicht mehr nach unten und auch wieder in südliche Richtung. Ich passiere einen abgelegenen Weiler.
Es regnet noch immer und weit und breit sehe ich keine Menschen. Tiere übrigens auch nicht, aber die haben sich bei dem Wetter bestimmt irgendwo verkrochen.

Bei Regen durch das Öxlbachtal

Endlich entdecke ich die ersten Schilder zum Baumannwiesköpfl!
Unter mir liegt das Zillertal. Ab und zu kann ich einen Blick auf den breiten Taleingang erhaschen, aber meist sehe ich zwischen den dichten Wolken nur das, was sich unmittelbar in meiner Nähe befindet.
45 Minuten Gehzeit – endlich!
Meine Schuhe quietschen mittlerweile vor Nässe. Keine Ahnung, wie ich die bis morgen trocken bekommen soll … Und hoffentlich laufe ich mir mit den nassen Socken keine Blasen!

Ich denke an den Marsch durch den Zwieselgraben zur Gufferthütte und schwanke, ob ich lieber bei glühender Hitze oder bei strömendem Regen wandern möchte. Ich bleibe unentschlossen, mir gefällt beides nicht.
Der Weg führt mich in ein Waldstück und wird zu einem schmalen Pfad. Er erinnert mich an den Kreuzweg am Vormittag (war das wirklich heute und nicht gestern? Mittlerweile komme ich ganz durcheinander) und ist genauso rutschig.
Hier ist also wieder Konzentration gefragt.
Aber im Gegensatz zum Vormittag habe ich schon ein paar Höhenmeter in den Beinen, meine Klamotten sind klatschnass, die Schuhe auch – und wegen des ekligen Wetters habe ich seit dem Cafébesuch in Jenbach auch keine Pause mehr gemacht.
Ich sollte also dringend etwas Trinken und wenigstens ein paar Nüsse essen.

Da ich ohnehin komplett durchgeweicht bin, kann ich mich auch auf einen der glitschigen Felsblöcke setzen. Doch entspannend ist hier nichts, denn mit den nassen Händen bekomme ich den Rucksack kaum auf, und kalt wird mir außerdem.
Also trinke ich schnell und schnalle den Rucksack wieder auf den Rücken. Den Müsliriegel muss ich mit den Zähnen öffnen, weil meine schrumpeligen Finger an der Folie abrutschen.
Wie lange noch? Mein Handydisplay ist nass, die Brille auch, und ich kann die kleine Anzeige nicht lesen. Egal. Hauptsache, ich komme irgendwann mal an.
Der Weg wird steiler, der Abhang neben mir auch.

Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich durch eine Schlucht gehen muss. Im Wanderführer stand nichts dergleichen, auch nicht im Internet. Bevor ich mich bei der Planung für diese Etappe entschieden habe, habe ich mich eingehend informiert, doch das klang alles völlig unkritisch.
Aber vermutlich geht hier auch kaum jemand bei Sauwetter durch.
An einer Stelle ist der Weg beinahe weggespült und ich bekomme Herzklopfen. Hoffentlich ist der weitere Weg passierbar – nicht auszudenken, wenn ich den ganzen Weg wieder zurückgehen muss!
Ich blicke nach hinten und muss schlucken. Wenn man aus der anderen Richtung kommt, sieht man die Abhänge viel deutlicher!
Gestern habe ich noch über meine orangefarbene Rucksackhülle gescherzt, heute bin ich froh, sie zu haben.
Sollte ich hier irgendwo abstürzen, wird man zumindest den Rucksack finden.

Ein sehr schmaler Weg im Wald, links geht es einen Abhang hinunter. Er ist mit einem Metallgeländer und Balken gesichert. Das Foto ist wegen der nassen Linse verschwommen.
Durch den Regen ist die Linse nass und der Weg teilweise abgerutscht

Mit wackligen Beinen gehe ich weiter, den Blick immer nach vorn gerichtet.
Plötzlich habe ich Angst, dass mir jemand entgegenkommt. Hier passen keine zwei Leute nebeneinander! Es ist noch viel schmaler als auf dem Mariensteig.
Hoffentlich hält der Regen andere Wanderer ab – denn überholt werden möchte ich auch nicht!
Immer, wenn ich denke, dass der Weg vorne wieder breiter wird, kommt eine Kurve und er wird wieder eng und steil.
Und dann stehe ich plötzlich auf einer Wiese.
Irritiert bleibe ich stehen, dann entdecke ich ein Gebäude rechts oberhalb von mir.
Das Baumannwiesköpfl!
Die letzten Meter laufen sich fast von selbst, und erschöpft und völlig durchnässt erreiche den Gasthof.

Im Baumannwiesköpfl

„Da sind Sie ja endlich! Ich habe schon auf Sie gewartet!“, werde ich, natürlich im Zillertaler Dialekt, von der Hausherrin erwartet.
Ich bin offensichtlich der einzige Gast, und die Familie ist in der Küche versammelt, während ich im Flur alles volltropfe. Trotzdem fühle ich mich willkommen.
Die Wirtin führt mich zu meinem Zimmer und gibt mir die Speisekarte, damit ich mir schon einmal etwas zu Essen aussuchen kann.
Ich bin nicht abergläubisch, aber zu diesem Moment passt ein Spruch vom Jakobsweg: Der Weg gibt dir, was du brauchst.
Und die Wirtin vom Baumannwiesköpfl ist ein solches Geschenk. Sie bietet mir an, meine nassen Klamotten zu waschen und zu trocknen, macht mir ein ganz leckeres Schnitzel und gibt mir wirklich alles, was ich in diesem Moment brauche – ungefragt und mit offener Herzlichkeit.
Große Dankbarkeit durchströmt mich und plötzlich fühlt sich auch der regennasse und mental harte Tag wieder gut an.
Für so etwas liebe ich lange Wanderungen!

Erschöpft und sehr zufrieden schlafe ich ein.

Auf einem weißen quadratischen Teller liegen frittierte Kartoffelspalten und Champignons in einer Cremesoße. Daneben steht ein kleiner gemischter Beilagensalat. Auch ein Glas Bier und ein kleines Schnapsglas stehen auf dem Tisch.
Essen für Leib und Seele

Gehzeit mit Pausen: 06:30 Std.
Strecke: 15 km
Höhenmeter: 640 hm auf/ 520 hm ab
Wertung Landschaft: 3/5

Hier geht es weiter:

Im Hintergrund ein Bergpanorama mit Nebel und Regenwolken, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Tag 6 Baumannwiesköpfl-Hochfügen

Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing
Tag 6: Baumannwiesköpfl-Hochfügen

VÖ geplant für 31.03.25

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Meine Alpenüberquerung: Tag 4 – Achenkirch-Erfurter Hütte

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Im Hintergrund eine Kuh auf einer Bergwiese, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Tag 4 Achenkirch-Erfurter Hütte

Sonntag, 30. Juni

Der Morgen in Achenkirch beginnt sonnig, aber schon beim Einstieg in den Mariensteig ziehen erste Wolken auf. Auch ohne Sonne ist es warm, fast schwül.
Trotzdem ziehe ich meinem Rucksack schon mal die orangefarbene Regenhaube über – wegen des gemeldeten Regens, aber auch wegen der Sichtbarkeit.
Noch habe ich die Hoffnung, dass das Wetter ein paar Leute davon abhält, heute den Uferweg am Achensee zu nehmen. Am Seebad Achenkirch ist es jedenfalls fast menschenleer, aber es ist ja auch noch früh.
Direkt am Anfang der Strecke stehen Warnschilder und ich habe ein bisschen Muffen vor ausgesetzten Stellen.
Naja, immerhin wird mein Rucksack schön orange aufleuchten, bevor er dann mit mir im blauen Achensee verschwindet, sollte ich unterwegs abstürzen.

Ein Warnschild: Gaisalmsteig "Mariensteig" Nur von Geübten zu begehen. Bei Frost, Vereisung, Schneedecke und Unwetter Begehen lebensgefährlich und daher verboten! Befahren mit Mountainbikes strengstens verboten! Hunde an die Leine!
Ein bisschen mulmig wird mir schon …

Der Mariensteig am Achensee

Die Landschaft ist wunderschön, auch mit Wolken.
Der Achensee ist der größte See Tirols, und je nach Wetter leuchtet er in wunderschönem Türkis. Die Ufer sind schmal, nur auf der Ostseite ist überhaupt Platz für eine Straße. Hier auf der Westseite reicht es nur für einen schmalen Steg.
Die Berghänge ragen teilweise steil empor und der Achensee liegt wie in einem riesigen Becken dazwischen. Er lockt jedes Jahr Tausende Gäste an, was ich absolut verstehen kann.
Hier wird einem definitiv nicht langweilig: Man kann schwimmen, Tretboot fahren, Surfen und Segeln, mit der Fähre fahren, essen und trinken, die Landschaft genießen – und natürlich auch wandern.
Der Mariensteig, auch Gaisalmsteig genannt, ist 9 km lang und führt direkt am Achensee entlang auf teilweise sehr schmalen Pfaden auf und ab.
Etwa in der Mitte befindet sich die Gaisalm, ein beliebtes Ausflugsziel, das auch per Schiff erreicht werden kann (heute ist Sonntag, argh!).

Eine schmale Treppe aus Balken, die zwischen Felsen entlangführt.
Der Weg ist wirklich wunderschön

Manchmal ist der Weg sehr eng, es gibt künstliche Stufen, um die Höhe zu bewältigen, und Aussichtspunkte laden zum Verweilen ein.
Ab und zu werde ich von anderen Wanderern überholt – aber das kenne ich ja als Wanderschnecke. Eines der Paare, das sich an einer schönen Stelle gegenseitig fotografiert hat, habe ich nach einem Foto von mir gefragt.
Das war zum Glück relativ am Anfang, denn mittlerweile bin ich arg angestrengt und vermutlich knallrot und verschwitzt. Kein Wunder bei der schwülen Hitze!
Die beiden wollen ebenfalls nach Sterzing, gehen aber den Normalweg und planen auch weniger Zeit ein als ich. Kunststück, denke ich, in meinem Tempo braucht man ja auch ewig.
Bisher hält es sich mit dem Gedränge auf dem Weg in Grenzen und ich hege die Hoffnung, dass es so bleibt – für irgendetwas muss das angekündigte Unwetter ja gut sein!

Die Gaisalm

Je weiter ich mich von Achenkirch entferne, desto schöner wird der Weg.
Der See, die teilweise mediterran wirkenden Pflanzen, das helle Gestein auf dem Weg – manchmal komme ich mir vor wie in Südeuropa. Alle paar Meter könnte ich stehenbleiben und fotografieren.
Hier ein Wasserfall, da ein Steilufer, zwischendrin blühende Pflanzen und im Hintergrund auch noch die Berge. Ich verstehe absolut, warum dieser Steig zu den beliebtesten in ganz Tirol gehört.
Jetzt noch ein Stück weiterkraxeln, dann müsste ich oberhalb der Gaisalm herauskommen. Und richtig, da liegt sie!

Man schaut von oben an einem Baum vorbei auf eine Gaststätte am See, umgeben von Wegen und Wiesen. Es gibt einen schmalen Anlegesteg, aber es man sieht kein Schiff.
Die Gaisalm liegt ungefähr in der Mitte des Weges

Eine steile Treppe mit Geländer führt hinunter, am Ufer sitzt eine größere Wandergruppe und hält die Füße ins Wasser. Hier brauche ich meine Stöcke nicht mehr, also packe ich sie weg – und achte dabei nicht auf den Weg.
Plötzlich rutsche ich über das Geröll, greife schnell zum Geländer und ratsche mir den linken Oberarm auf. Autsch!
Die Haut ist gerötet und teilweise abgeschürft, aber es blutet nur wenig. Auch das Bein habe ich mir angeschlagen, aber das merke ich kaum.
Puh, das hätte auch anders ausgehen können. Ich sehe mich schon mit dem schweren Rucksack die Treppe hinunterpurzeln und mit verdrehtem Knie unten ankommen.
Apropos Knie:
Beim Festklammern am Geländer bin ich ins Leere getreten. Ich strecke und beuge das Knie, versuche, durch die Bandage etwas zu ertasten. Fühlt sich alles gut an. Allerdings tut mir nun der Knöchel weh.
Verdammt!
Hoffentlich nichts Schlimmes und nichts, was mehr als Schmerzmittel benötigt. Ich habe keine Lust, mich hier im Ausland behandeln zu lassen oder gar die Wanderung abzubrechen!
Also beiße ich die Zähne zusammen und steige weiter hinab zur Gaisalm.
Tja, so schnell kann es gehen …

Es ist Viertel vor elf, ich könnte also eine Rast einlegen, einen Kaffee oder eine Saftschorle trinken und meinen Knöchel begutachten.
Aber der Himmel gefällt mir nicht. Die Wolken werden immer dichter und es windet merklich. Ich muss auf jeden Fall vor dem Unwetter oben auf der Erfurter Hütte sein, sonst habe ich ein echtes Problem. Schließlich war es mir schon Anfang des Jahres nicht einmal mit Hilfe des Tourismusbüros gelungen, ein bezahlbares Bett in Maurach zu finden – das würde jetzt, auf den letzten Drücker, noch unmöglicher werden (und unmöglich kann man nicht mal steigern!)
Trotzdem gehe ich im Kopf Alternativen durch. Zur Not müsste ich irgendwo außerhalb etwas suchen und mit dem Taxi hinfahren.
Nein, das will ich nicht!
Also lasse ich die Gaisalm rechts liegen und blicke noch einmal auf die Wetterapp. Drei Stunden habe ich demnach noch, bis es losgeht.
Wenn ich mich ranhalte, schaffe ich es!

Menschenmassen

Der Weg bleibt nun einigermaßen flach und führt durch Waldstücke und über dichtes Wurzelwerk.
Wurde ich vor der Gaisalm noch überholt, kommen mir hier eher Leute entgegen. In Wanderklamotten oder weißer Sonntagskleidung, auf dem E-Bike oder auch in hohem Tempo beim Traillauf. Ein Trailläufer motzt die Spaziergänger an, die ihm zu langsam sind, die wiederum regen sich über den Sportler auf.
Der Weg ist breit genug und ich weiche aus.
Noch mehr Menschen kommen mir entgegen.
Die Gaisalm ist offensichtlich ein beliebtes Ausflugsziel für sonntagmittags.

Blick vom Weg auf den Achensee.
Man sieht die Berge rundherum, es ist diesig und bewölkt.
Wie es hier wohl bei Sonnenschein aussieht?

Der Weg wird enger, die Uhr rückt immer weiter gegen Mittag, der Menschenstrom wird größer.
Alle paar Meter muss ich stehenbleiben, um entgegenkommende Gruppen passieren zu lassen. Kaum gehe ich ein paar Schritte, kommen die nächsten. Habe ich anfangs noch freundlich gegrüßt, ist mir mittlerweile eher nach Seufzen (hey, ich verdrehe noch nicht die Augen, meine Selbstbeherrschung ist groß!).

Dass ich Menschen vorbeilasse, scheint ein Zeichen für die Nachfolgenden zu sein, auch noch schnell an mir vorbeizuhuschen – ohne Gruß, Dankeschön oder wenigstens einen Blick.
Mein mittlerweile erhöhter Puls liegt definitiv nicht an der Anstrengung, ich komme ja kaum vorwärts. Immer wieder laufen Paare und Gruppen wie selbstverständlich an mir vorbei, weil die grimmige Frau mit dem großen Rucksack ja alle durchlässt.
Irgendwann bin ich völlig genervt und will hier einfach nur noch weg. Hatte es in meiner Planung wirklich keine andere Option gegeben, als diesen Weg ausgerechnet am Wochenende zu gehen? Hätte ich mir nicht einfach noch ein paar zusätzliche Tage freinehmen können und alles um ein paar Tage verschieben?
Aber das hilft mir jetzt auch nicht. Jetzt bin ich hier und muss irgendwie hier durch. Meter für Meter komme ich vorwärts.
Die Kleidung der Entgegenkommenden wird immer abenteuerlicher. Je näher ich Pertisau komme, desto weniger sind die Spaziergänger auf das Terrain vorbereitet. Mit Flip-Flops, Sandalen mit Absatz oder weiten Kleidern auf einem alpinen Steig? Na super. Und dann auch noch bei drohendem Gewitter …

Die Achensee-Schifffahrt

Mittlerweile tun mir Knöchel und Knie von dem Beinahe-Sturz richtig weh und meine Stimmung ist ziemlich down. Der Weg ist inzwischen asphaltiert und denkbar unattraktiv, und die Wanderung durch die Menschenmenge am Mariensteig hat mich so genervt, dass ich keine Lust mehr auf Wandern habe.
In Pertisau muss ich nicht lange nachdenken, meine Füße tragen mich fast alleine zum Anlegesteg der Achenseeflotte. Ich kaufe ein Ticket nach Seespitz, mache endlich meine Mittagspause (boah, ich habe gar nicht gemerkt, wie hungrig ich eigentlich bin!) Und steige kurz darauf mit anderen auf das Schiff nach Maurach.
Die Fahrt dauert nicht lange, aber ich sitze trotzdem warm eingepackt auf dem Oberdeck und lasse mir den Fahrtwind ins Gesicht wehen.
Ach, so schlecht war die Idee mit der Schifffahrt gar nicht. Vor allem bin ich froh, auf so eine schöne Art abkürzen zu können.

Am Hafen steht die berühmte Dampflok, doch mein Plan ist ein anderer. Im Zentrum des Ortes befindet sich, leicht erhöht, die Talstation der Rofanbahn, die mich nach oben zur Erfurter Hütte bringen soll.
Es hat aufgefrischt und ich löse mein Ticket. Außer mir ist kein anderer Fahrgast in der Kabinenbahn und ich frage den Kabinenschaffner, bis zu welchen Windstärken die Gondel überhaupt fährt.
Wir reden über Schlechtwetter, über Sturmböen und dass er gelegentlich ein mulmiges Gefühl bekommt, wenn es zu stark windet. Mehr klappt leider nicht, da ich Schwierigkeiten habe, den Dialekt zu verstehen.

Auf der Erfurter Hütte

Oben angekommen, gehe ich direkt zur Erfurter Hütte, um einzuchecken und endlich meinen Rucksack abstellen zu können.
Drinnen erwartet mich dann der nächste Zivilisationsschock. Hier oben ist alles auf Hochbetrieb ausgerichtet und mir schwant Fürchterliches. Nach so einem Tag wie heute will ich nicht auch noch mit unzähligen Menschen im Lager nächtigen!
Mittlerweile ist es vierzehn Uhr und ich bin froh, endlich oben zu sein.
Und vielleicht habe ich sogar Glück, und das Unwetter bleibt aus, zieht vorüber oder entpuppt sich als einfacher Landregen.

Matratzenlager. Fünf Betten unten, eins oben. Alles ist aus hellem Holz, auch die Betten und die Leiter für das obere Bett. Die Matratzen sind rot bezogen, am Fußende liegen jeweils zwei rote Decken mit dem Alpenvereins-Logo, dem Edelweiß.
Das Bettenlager besteht aus vielen Nischen, man fühlt sich fast wie in einem geschlossenen Zimmer.

In dem riesigen Bettenlager unterm Dach liegen nur noch zwei andere Personen.
Das Lager ist noch relativ neu und sehr geschickt in einzelne Abteilungen und Nischen eingeteilt. Es gibt Stockbetten, offene Regale und sogar USB-Ladestecker.
Meine Nische ist noch leer.
Soll ich oben oder unten schlafen? Ich entscheide mich für oben und will gerade anfangen, meinen Hüttenschlafsack sowie Schlafbrille und Ohropax zurechtzulegen, als ich merke, dass ich dann nur durch eine halbhohe Holzwand von dem Pärchen in der anderen Nische getrennt wäre. Ich könnte fast in ihr Bett klettern – oder sie in meins.
Das ist mir dann doch zu nah und ich nehme meine Sachen und breite sie im unteren Bett aus. Vielleicht habe ich ja Glück, und es kommt niemand mehr in meine Nische.
Nachdem ich alles sortiert habe, gehe ich erstmal duschen und setze mich auf die Terrasse, um etwas zu essen und zu trinken.
Leider ist es ziemlich bewölkt, denn der Blick von hier oben auf Achensee und die umliegende Bergwelt ist bei klarer Sicht bestimmt phänomenal!

Nun kommt es doch

Es wird kühl und immer dunkler, also beeile ich mich mit dem Essen, um noch eine Runde spazieren zu gehen. Hinter der Erfurter Hütte ragen die Gipfel des Rofangebirges empor, es gibt Kletter- und Wanderrouten, grüne Wiesen und Fels und Geröll. Eigentlich schade, dass ich nicht noch einen Tag dranhängen und hier ein bisschen wandern kann.

Eine Landschaft mit Bergen, Wiese, Felsen und Wegen. Der Himmel bewölkt, teilweise liegen die Bergspitzen im Nebel.
Tolle Gegend!

Die Kühe werden unruhig und laufen Richtung Hütte. Es ist noch einmal kälter geworden und die Wolken bewegen sich schnell, hüllen die Berge ein und verdunkeln den Himmel.
Höchste Zeit, umzukehren!
Schnell mache ich noch ein paar Fotos und gehe zügig zurück. Hinter mir eilen Kletterer mit voller Ausrüstung ebenfalls zur Hütte – keine Minute zu spät.
Ich bin noch gar nicht richtig im Lager unter dem Dach angekommen, als es plötzlich unfassbar laut und ziemlich dunkel wird. Mit gezücktem Handy eile ich zum Fenster.
Der Sturm, der sich so lange angekündigt hat, wütet nun intensiv um die Hütte herum. Hagel knallt in hohem Tempo auf das Blechdach und gegen die Fenster, die Bäume biegen sich und ich halte mir die Ohren zu.
Von einem anderen Fenster aus kann ich auf die Bergstation der Gondel schauen. Menschen drängen sich in dem engen Vorraum, die Scheiben sind beschlagen, einzelne Wanderer rennen zur Station, die Arme zum Schutz vor dem Hagel über den Kopf gelegt.
Ich bin froh, hier drin zu sein.
Hoffentlich ist da draußen niemand mehr! Vor allem niemand, der Hilfe braucht.

Blick aus dem regennassen Fenster auf eine Berglandschaft. Auf den Dächern, den Wegen und Wiesen liegt Hagel, es sieht aus, als hätte es geschneit.
Es ist so kalt, dass der Hagel liegen bleibt

Nach einer Stunde ist es vorbei.
Der Sturm hat sich gelegt, die Gondel hat die Wartenden nach unten gebracht.
Draußen ist es kalt, der Hagel verstopft die Dachrinnen und bildet Haufen zwischen Felsen und Steinen.
Die Kühe sind nicht zu sehen und ich gehe in den Gastraum, um mir einen Kaiserschmarrn zu gönnen.
Hoffentlich ist das Wetter morgen wieder besser!

Gehzeit: 2:15 Std.
Strecke: 8,7 km
Höhenmeter: 130 hm auf/ 140 hm ab
Wertung Landschaft: 5/5

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Meine Alpenüberquerung: Tag 3 – Gufferthütte-Achenkirch

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Im Hintergrund ein Bergpanorama mit einer Wiese, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Tag 3 Gufferthütte-Achenkirch

Samstag, 29. Juni

Die Nacht im Matratzenlager der Gufferthütte war wie erwartet unruhig.
Warum die Wandergruppe, die dort mit mir und anderen übernachtete, so wenig Rücksicht auf uns nimmt, weiß ich nicht.
Jedenfalls wird schon sehr früh laut geredet und gelacht, geraschelt, geklappert und die Tür geknallt. Obwohl noch andere im Raum liegen und offensichtlich noch schlafen wollen.
Zum Glück war ich am Vorabend schon zeitig im Bett und habe so immerhin genug geruht.
Den Blick auf mein Handy kann ich mir sparen, denn hier gibt es nirgends Netz. Die Fotos, die ich gestern an meine Familie schicken wollte, warten noch immer auf ihre Sendung. Nicht einmal eine SMS konnte ich schicken, um von meiner Ankunft an der Hütte zu berichten. Zum Glück neigt mein Mann nicht zur Sorge und wird sich denken können, dass ich hier in den Bergen keinen Empfang habe.

Ein ruhiger Morgen auf der Gufferthütte

Leise ziehe ich mich an und schleiche auf Socken nach unten, damit die beiden Menschen unter den Schlafsack- und Deckenbergen noch ein wenig ruhen können.
Der Frühstücksraum ist voll, ich ergattere noch ein Plätzchen an einem großen Tisch und lese beim Essen auf meinem Reader.
Heute kann ich es langsam angehen lassen. Ich muss nur 11 km bergab nach Achenkirch laufen, wo ich ein Hotelzimmer reserviert habe.
Daher hole ich mir nach dem Packen und Bezahlen noch einen Kaffee und setze mich draußen auf der Terrasse in die Sonne.

Eine Tasse Kaffee steht auf einem Holzbalken, man blickt auf eine Bergwiese und einen Bergrücken, davor stehen Nadelbäume. Die Sonne scheint und es wirkt harmonisch und ruhig.
Morgenstimmung auf der Gufferthütte

Außer mir ist niemand mehr da, die anderen Übernachtungsgäste haben sich längst auf ihre Wege begeben – manche wandern zu ihrem nächsten Ziel, andere gehen Klettern und kommen am Abend wieder. Eine Frau vom Hüttenteam wischt die Tische und legt Sitzkissen aus.
Der Ausblick ist wunderbar und ich genieße die Stille.
Für solche Momente übernachte ich gerne auf Hütten, denn das, was ich jetzt gerade erlebe, gibt es nur oben auf dem Berg. Die Stille, der imposante Ausblick auf die majestätischen Berge, die seit Jahrmillionen unverrückbar ihren Platz auf der Erde einnehmen – in solchen Momenten werde ich als Mensch ganz demütig.

Die Frau vom Hüttenteam spricht mich an. Sie hat gesehen, dass ich mit Barfußschuhen wandere und wir tauschen uns über verschiedene Marken aus.
Sie ist etwas jünger als ich und nimmt sich eine Auszeit in den Bergen.
Die Westfälin ist tatsächlich die erste Person auf meiner Tour, mit der ich ein längeres und anregendes Gespräch führe. In den letzten beiden Tagen sind meine bisherigen Kontakte nicht über mehr als höflichen Smalltalk hinausgegangen.
Mit leichter Wehmut denke ich an den Jakobsweg zurück, auf dem ich jeden Tag neue, inspirierende Menschen kennenlernte und dadurch besondere Gespräche führte. Aber dafür müsste ich natürlich erstmal irgendwo langgehen, wo auch andere Menschen sind!
Andere – und vor allem viele – Menschen dürften mich spätestens morgen am Achensee erwarten.
Leider muss ich die Strecke am Achensee ausgerechnet an einem Sonntag gehen. Bei meiner Planung habe ich viel hin- und herüberlegt, wie ich das umgehen könnte, aber es gab einfach keine gute Lösung.
Für morgen gibt es eine Unwetterwarnung. Vielleicht ist es dann ja nicht so voll?

Eine leicht geschwungene Bergwiese, im Hintergrund ein Bergrücken und blauer Himmel.
Unterhalb der Gufferthütte

Auf dem Geopfad Richtung Tal

Mein Weg ins Achental führt unterhalb der Gufferthütte entlang und zwischen Wiesen hindurch bis in ein kleines Waldstück. Die Sonne scheint, Insekten flirren um mich herum und die Kniebandage kneift. Aber ich genieße den entspannten Abstieg, bis ich an einen Forstweg komme.
Einige E-Biker kommen mir trotz der frühen Stunde schon hier oben entgegen.
Aber ja, es ist Samstag!
Der Weg nach Achenkirch führt auf einer Forststraße permanent bergab und ist eher unspannend. Aufgelockert wird das Ganze durch den „Geopfad Obere Ampelsbach“ mit Informationstafeln.
Je weiter ich nach unten komme, desto mehr Menschen begegnen mir, entweder zu Fuß oder auf dem E-Bike. Nach einiger Zeit erreiche ich einen Wanderparkplatz, wo ich erstmal eine Pause mache, Schuhe und Socken ausziehe und endlich die Tomaten esse, die ich vorgestern am Tegernsee gekauft habe.

Geröll. Es sieht aus, als wäre etwas aus dem Berg gebrochen, man kann auch auf die Abbruchkante schauen.
Auf dem Geopfad Obere Ampelsbach

Nach dem Queren der Landstraße erreiche ich nach insgesamt 2,5 Stunden Gehzeit den Ort Achenkirch.
Leider hat das Hotel gerade Mittagspause und öffnet erst in 1,5 Stunden.
Unschlüssig setze ich mich auf einen Stuhl im Schatten. Was mache ich jetzt in der Zwischenzeit? Ich könnte mit dem Bus an den Achensee fahren – aber der Rucksack, in dem ich all mein Hab und Gut transportiere, ist schwer. Ich schaue mich um. Das Hotel hat einen kleinen Garten. Vielleicht kann ich meinen Rucksack dort abstellen und nur mit leichtem Gepäck an den See fahren?
Gesagt – getan. Ich tausche meine Wanderstiefel gegen leichte Trekkingsandalen, packe meine Wasserflasche, die Brotdose, Handy und Portemonnaie in den kleinen 10-Liter-Faltrucksack und gehe zur Bushaltestelle.
Wer meinen großen Wanderrucksack mitnehmen will, findet darin hauptsächlich getragene Kleidung (ich habe auf der Gufferthütte nicht gewaschen) und meine Wanderstöcke. Alles Wertvolle trage ich bei mir, auch den E-Reader.

Am Achensee

Der Achensee liegt zwischen dem Ort Achensee im Norden und Maurach im Süden und ist der größte See Tirols. Er ist eingebettet zwischen Rofan und Karwendel und wird gerne von Wassersportlern genutzt.
Bevor ich den See erreiche, kaufe ich mir in einem Supermarkt eine neue Sonnenbrille – die alte liegt ja irgendwo im Zwieselgraben. Meine Augen sind sehr lichtempfindlich, also trage ich lieber eine mittelmäßig aussehende Sonnenbrille als gar keine.

Der Achensee, im Hintergrund einige Berge. Der Himmel ist leicht diesig, auf dem See erkennt man Menschen in Kanus und Tretbooten.
Die Badestelle am Achensee

Heute ist Samstag, das Wetter ist zwar diesig, aber warm, und die Badestelle in Achenkirch ist voll. Schade, dass ich keine Badesachen mitgenommen habe. Doch nicht nur Badegäste machen es sich am und im Achensee gemütlich, sondern auch einige Tret- und Paddelboote sind zu sehen.

Zuerst setze ich mich ans Ufer, beobachte die Menschen um mich herum und lasse meine Gedanken schweifen.
Wie lange habe ich auf diese Tour hingefiebert und mich vorbereitet?
Mein Blick fällt auf die Kniebandage. Eigentlich hatte ich schon letztes Jahr hier sitzen wollen, aber da hat mein Körper nicht mitgemacht.
In diesem Jahr läuft es bisher ganz gut. Ja, das Knie tut mir abends weh, aber von den Schmerzmitteln, die ich eingepackt habe, musste ich noch keins nehmen. Es könnte also schlechter sein.

Nach einem kurzen Spaziergang nach Scholastika kehre ich ein und gönne mir einen großen Eiskaffee auf der Seeterrasse des Restaurants. Am Steg nebenan legt eine Fähre an, Menschen verlassen das Schiff, andere betreten es. Der Achensee ist etwa 9 km lang und die Fahrt mit dem Schiff sicherlich ein schönes Erlebnis.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees befindet sich der Mariensteig, den ich morgen gehen werde.
Wie viele Menschen wandern wohl heute auf dem Steig entlang des Achensees – und wie viele werden es morgen am Sonntag sein?

Aber vielleicht schreckt ja das angekündigte Unwetter ein paar Leute ab.
Ich werde jedenfalls früh losgehen, um so weit wie möglich zu kommen. Am Mariensteig kann man nicht abkürzen, es gibt nur den Zwischenstopp Gaisalm ungefähr auf der Hälfte. Da ich auch noch mit der Gondel hoch zur Erfurter Hütte fahren muss, werde ich einen gewissen Zeitdruck haben.
Es war fast unmöglich, eine bezahlbare Unterkunft rund um Maurach zu finden, deshalb entschied ich mich für eine Übernachtung auf der Erfurter Hütte. Das war, trotz nicht gerade günstiger Bergbahn, immer noch billiger als eine Unterbringung direkt am See.
Zum Glück habe ich zwischen den beiden Nächten im Hüttenlager noch eine Nacht im Hotel. Wer weiß schon, welche Reisegruppen mich morgen auf der Erfurter Hütte erwarten!
Aber heute ist es noch sonnig (allerdings etwas diesig – ist das etwa schon ein Vorbote für morgen?), warm und wie gemacht für einen Tag am See.

Ein Eiskakao steht auf einem Tisch, dazu eine Speisekarte und Deko. Der Tisch steht vor einer Balkonbrüstung, direkt dahinter ist der See. Bewaldete Berge rahmen den See ein, von links kommt eine Fähre.
Der wohlverdiente Eiskaffee

Pizza und Fußball in Achenkirch

Mit dem Bus fahre ich zurück zum Hotel.
Dort herrscht mittlerweile reger Betrieb, mein Rucksack steht unangetastet hinter der Hausecke und ich checke ein. Nach der Dusche und der Handwäsche meiner Klamotten gehe ich nach nebenan in die Pizzeria.
Heute spielt Italien in der K.O.-Runde der Fußball-EM gegen die Schweiz – es gibt wohl kaum einen passenderen Ort, um das Spiel anzuschauen!
Das dachten sich anscheinend noch mehr Leute. Es ist voll und ich habe wohl nur Glück, weil ich frühzeitig da bin und mir ein kleiner Tisch reicht. Bei einer leckeren Pizza schaue ich mir das Spiel an, das den vielen anwesenden Italienerinnen und Italienern aber nur wenig Freude bereitet.

Am Nachbartisch sitzen ein paar Studierende aus Deutschland, wie ich den Gesprächen entnehme. Sie tragen gelbe Bändchen mit dem typischen Ü für die Alpenüberquerung und tauschen sich über den morgigen Tag aus: Wann müssen wir die Koffer abgeben, wann fährt der Bus zum Achensee?
Ein ausgedruckter Tagesplan mit den wichtigsten Infos macht ihre Wanderung zu einer All-inclusive-Reise.
Das für morgen angekündigte Unwetter spielt in ihren Gesprächen keine Rolle.

Ich werde nachdenklich.
So schön die Berge auch sind – sie sind ein potenziell gefährlicher Ort.
Jedes Jahr kommen zwischen 200 und 300 Personen in den Alpen ums Leben, Tausende werden verletzt.
Das Wetter kann jederzeit umschlagen, und ein Gewitter oder plötzlicher Schneefall sind nie auszuschließen.
Trotz sorgfältiger Planung durch den Veranstalter gibt es in den Bergen immer gewisse Risiken und man sollte das Wetter jederzeit im Blick haben.
Zum Glück fährt ein Bus am Achensee entlang, sodass ich in der allergrößten Not nach Maurach fahren könnte.
Aber vormittags, wenn ich laufe, soll es ja noch schön sein.

Eine Pizza mit Oliven, Thunfisch und Zwiebeln auf einem Holztisch, dazu ein Bier.
Pizza und Fußball beim Italiener

Nach dem verlorenen Spiel ist die Stimmung in der Pizzeria leicht getrübt.
Aber ich bin ohnehin mit Essen fertig und gehe nach einem Basilikumlikör nach nebenan in mein Hotel.
Mit Blick auf die Berge schlafe ich ein.

Gehzeit inkl. Pausen: 2:45 Std.
Strecke: 11 km
Höhenmeter: 80 hm auf/ 640 hm ab
Wertung Landschaft: 3/5

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Meine Alpenüberquerung: Tag 2 – Kreuth-Gufferthütte

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Im Hintergrund ein Bergpanorama, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text:
Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing
Tag 2 Kreuth-Gufferthütte

Freitag, 28. Juni

Am Morgen erwache ich schon einige Zeit vor dem Wecker, bleibe aber noch liegen und lausche in meinen Körper hinein. Zwickt das Knie? Was machen Oberschenkel und Waden? Ich kann nicht unterscheiden, ob ich wirklich eine Änderung spüre oder ob ich sie mir einbilde.
Um sieben Uhr stehe ich endgültig auf. Meinen Rucksack möchte ich schon vor dem Frühstück packen, doch auf dem Balkon stelle ich fest, dass meine Klamotten von gestern noch feucht sind. Dann muss ich sie wohl am Abend auf der Gufferthütte wieder aufhängen.
Im Frühstücksraum erwarten mich ein Brötchenkorb und ein Buffet mit selbstgemachten Leckereien wie Marmelade, Honig oder verschiedene Käsesorten.
Als mich die nette Wirtin ermuntert, noch eine Brezel für unterwegs mitzunehmen, greife ich erfreut zu.

Wildbad Kreuth

Mein Weg beginnt am Wanderparkplatz „Wildbad Kreuth“.
Eine Gruppe von etwa 10 Personen macht sich für eine Wanderung bereit, sie lachen und verbreiten gute Laune. Welches Ziel sie wohl haben? Die Gufferthütte, so wie ich? Oder die Blaubergalm? Oder etwas ganz anderes?
Zuerst überquere ich einen kleinen Bach und stehe dann etwas ratlos vor einem Wegweiser.
Es gibt zwei Wege zur Gufferthütte – einmal rechts entlang in sechs Stunden, einmal links entlang in fünfeinhalb Stunden. Da es links herum kürzer zu sein scheint, nehme ich also den linken Weg.

Sechs gelbe Wegweiser hängen an einem Baum.
Drei zeigen nach rechts, drei nach links.
Darauf stehen unterschiedliche Wanderziele und die Gehzeiten.
Die Qual der Wahl


Zuerst bleibt es flach und ich wandere durch Wiesen und Wäldchen, vorbei an der Königlichen Fischzucht und der Almwirtschaft Siebenhütten, die momentan allerdings geschlossen hat. Aber für eine Einkehr ist es mir ohnehin noch zu früh.
Kurz hinter den Teichen der Fischzucht biege ich rechts in den Kiem-Pauli-Weg ein.
Der Weg führt moderat bergan, ich laufe durch ein schattiges Wäldchen und ärgere mich mal wieder, dass ich mir keine Geocaching-App aufs Handy geladen habe. Dieses Stück Natur lädt einfach zum Verstecken und Suchen ein!
Ab und zu öffnet sich der Blick durch die Bäume und ich sehe den gegenüberliegenden Bergrücken. Ob da schon Österreich liegt?
Unter mir erkenne ich eine Art Schlucht, mittlerweile bin ich also schon ein ganzes Stück nach oben gekommen und mir ist ordentlich warm.
Doch kurz vor der Hohlenstein-Alm ist es mit der moderaten Steigung vorbei, jetzt geht es erstmal steil bergauf. Der Weg ist allerdings breit, sodass ich knieschonend im Zickzack laufe.

Eine niedrige, langgezogene Berghütte aus dunklem, verwittertem Holz auf einer eingezäunten Wiese.
Nicht die Gufferthütte

Der Zwieselgraben

Mittlerweile ist es halb elf und die Sonne knallt vom Himmel, meine lange Hose ist viel zu warm und ich schwitze. Ich habe Angst, dass mein Wasser nicht reicht, wenn ich sowieso alles wieder ausschwitze. Also mache ich an einem großen Stein neben einer Bachquerung Halt und schaue mich um.
Ich habe schon ewig keine anderen Menschen mehr gesehen, das Paar aus dem schattigen Wäldchen hat offensichtlich einen anderen Weg genommen. Auch von oben kommt niemand (sollte mich diese Einsamkeit eigentlich beunruhigen?). Also ziehe ich mich kurzerhand um und laufe in Wandershorts weiter.
Was für eine Befreiung!
Und wieder geht es in ein Wäldchen und wieder bergauf.
Zwischendurch quere ich erneut den Bach und betrete ein großes Waldstück.
„Gufferthütte 4 h“, lese ich auf dem Schild. Uff. Das ist ja immer noch ganz schön weit!
Demnach habe ich für den bisher gegangenen Teil fast zwei Stunden statt der angegebenen eineinhalb gebraucht.
Aber ich weiß ja, dass ich für die meisten Zeitangaben auf den Schildern zu langsam bin und rechne mir lieber nicht aus, wie lange ich wohl noch brauchen werde.

Ein gelber Wegweiser an einem Baum. Er zeigt nach oben, darauf steht: Halserspitz 3,5 h, Gufferthütte 4 h
Ich wäre gerne schon weiter

Das Waldstück heißt zwar Zwieselgraben, aber von einem Bach ist nichts zu sehen. Aufgetürmte Steine, Stämme und Zweige zeigen jedoch, dass das Wasser zumindest zeitweise mit ziemlicher Kraft hier runterrauscht.
Aber wo muss ich jetzt langgehen? Einen Weg kann ich jedenfalls nicht erkennen, obwohl meine Wanderapp mir einen anzeigt.
Da entdecke ich niedrige, rot gestrichene Pfosten in dem Steilstück vor mir.
Mir klappt die Kinnlade nach unten und ich setze mich erstmal auf einen Felsen.
Dass der Weg soo steil wird, hatte ich nicht erwartet. In Serpentinen schlängelt sich der schmale, kaum sichtbare Pfad durch Gestrüpp und Gebüsch und von hier unten ist kein Ende zu sehen.
Ich trinke einen Schluck Wasser, stecke mir ein paar Nüsse in die Hosentasche und mache mich an den Aufstieg.
Es ist mühsam, es ist zäh, ich mache wegen der Serpentinen kaum Höhe – aber immerhin ist es hier im Wald einigermaßen kühl.
Immer wieder bleibe ich stehen, suche die nächsten roten Pfosten über mir und schaue gelegentlich zurück. „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“, denke ich und gehe weiter.
Dass mir auf dem schmalen Trampelpfad jemand entgegenkommt oder mich überholen will, schließe ich mittlerweile aus. Hier ist niemand außer mir – und hoffentlich auch keine großen Tiere!
Vorsichtig nehme ich die Trillerpfeife von meinem Rucksack und blase leicht hinein. Sie funktioniert. Trotzdem bin ich froh, dass ich ganz passabel mit den Fingern pfeifen kann.
Man weiß ja nie.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich durch den Zwieselgraben gekämpft habe (vermutlich auch wieder länger als angegeben), doch irgendwann erreiche ich endlich eine freie Fläche – nur, um zu sehen, dass ich immer noch nicht oben bin.
Jetzt muss ich auch noch über Wurzelwerk klettern, wofür ich teilweise die Hände brauche. Stellenweise ist es so steil, als würde ich eine Leiter erklimmen. Hoffentlich zieht mich mein Rucksack nicht nach hinten! Ich traue mich kaum, nach unten zu schauen.
Von oben kommt fröhlich ein weißhaariger Mann und hüpft gazellengleich nach unten. Schnaufend und schwitzend bleibe ich stehen und lasse ihn an mir vorüberspringen.
Nun gut, er hüpft gar nicht, ist aber erheblich schneller als ich. Meine Wanderapp springt immer wieder in den Pausenmodus, weil ich so langsam bin.
Kein Wunder, war die Steigung in der letzten halben Stunde doch zwischen 28 und 30 Prozent groß!
(Das ist tatsächlich sehr steil.)

Ein schmaler Pfad auf einer Wiese, am Hang stehen zwei große Nadelbäume, daneben eine kleine Berghütte.
Links sieht man Berge hinter dem Hang.
Es ist bewölkt.
Auch nicht die Gufferthütte

Eine Gratwanderung

Nach insgesamt 5 Kilometern – die mir erheblich länger vorkommen! – erreiche ich den Weissenbachkopf (1352 m). Hier mache ich erstmal eine Mittagspause, esse die Brezel vom Frühstück und ein paar Nüsse. Meine Güte, war das ein Kampf. Aber ich habe es geschafft! Um meine Freude mit jemandem zu teilen, mache ich Fotos von dem schönen Hochplateau, um sie meiner Familie zu schicken.
Doch leider habe ich kein Netz. Weder Telefon noch Internet.
Schade! Dann schicke ich die Bilder eben am Abend aus der Gufferthütte.
Hier oben ist es merklich kühler als unten im Tal und ich fange an zu frösteln. Also schnalle ich mir meinen Rucksack wieder auf und ergreife meine Wanderstöcke.
Doch wo ist meine Sonnenbrille? Ich taste alles ab, suche den Boden rund um meinen Rastplatz ab und ein Stück des Weges.
Nichts. Keine Sonnenbrille.
Tja, die liegt vermutlich irgendwo im Zwieselgraben. Als mir der gazellengleiche Senior entgegenkam, habe ich meinen Hut abgesetzt, weil es darunter so warm war. Wahrscheinlich ist sie mir da vom Hut gerutscht, ohne dass ich es gemerkt habe.
Dann muss ich mir wohl spätestens am Achensee eine neue kaufen.
Also geht es erstmal ohne Augenschutz weiter.
Der Weg ist nicht mehr so steil, zumindest nicht mehr über so eine lange Distanz, und es ist ein angenehmes Auf und Ab durch Wälder und über Wiesen.
Die Landschaft hier in der Höhe gefällt mir gut, die Bäume, die Wiesenpflanzen – alles ist ein klein wenig anders als im Tal. Und es ist still. Nicht einmal Insekten oder Vögel sind zu hören, nur das Knirschen meiner Schritte und das Rascheln meiner Kleidung.

Eine Hangwiese, bestanden mit Nadelbäumen, im Hintergrund heben sich blau die Berge empor.
Leicht wolkiger Himmel.
Toller Blick vom Pausenplatz

Es geht noch einmal ein Stück nach oben und ich brauche erneut meine Hände. Doch auf dem Grat werde ich mit einem grandiosen Rundumblick belohnt. Mein Handy rappelt und heißt mich in Österreich willkommen.
Schade, dass es hier kein Grenzschild gibt. Ich hätte gern ein Foto davon für meine Sammlung gehabt.
Vor mir erhebt sich die Halserspitz, deren nördliche Flanke ich queren muss.
Angeblich ist es bis zur Gufferthütte nur noch eine Stunde, ich bin aber skeptisch. Mittlerweile bin ich mit Pausen schon fünfeinhalb Stunden unterwegs, es fühlt sich aber deutlich länger an. Aber diese Stunde schaffe ich auch noch!

Auf dem Grat vor der Halserspitz

Nach der Passage des Nordhangs der Halserspitz geht es zwischen Steinen, Fels und niedrigem Gestrüpp weiter und ich muss mich gut konzentrieren. Die Stöcke nehme ich in eine Hand, die kann ich hier nicht gebrauchen. Dafür ist der Weg zu schmal und die Gefahr zu groß, damit in einer Lücke zwischen dem Gestein zu landen.
Mein Knie zwickt mittlerweile ziemlich und ich freue mich schon auf mein Bett in der Gufferthütte!
Weil ich mir nicht vorstellen kann, mit Fremden ein kleines Zimmer zu teilen, habe ich mich für das Matratzenlager entschieden. In einem großen Raum erscheint mir das Schlafen mit anderen weniger intim und persönlich als in einem engen Zimmer, und bisher habe ich auf jeder Hütte eine eigene Nische für mich gehabt.

Die Bayrische Wildalm

Vor mir öffnet sich plötzlich eine weite Ebene und ich bleibe überrascht stehen.
Ich komme mir vor wie in einer Filmkulisse!
Ein Schild verrät mir, dass das die „Bayrische Wildalm“ ist. Es ist wunderschön hier!
Ein paar Gehminuten später entdecke ich tatsächlich ein Geländefahrzeug mit Miesbacher Kennzeichen (Tegernsee). Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass man diesen wunderbaren Ort auch mit dem Auto erreichen kann. Andererseits: Wie soll man ihn sonst bewirtschaften?
Mittlerweile sind die Beine ziemlich schwer, ich schwitze ohne Ende und habe kurz vor der Wildalm den letzten Rest Wasser getrunken. Die 1,5 Liter waren für diesen Weg und bei diesem Wetter offensichtlich zu wenig. Hoffentlich ist der Weg jetzt nicht mehr allzu weit!

Ein großes, grasbewachsenes Plateau, im Hintergrund ein großer Berg, die Halserspitz.
Am Rand des Plateaus stehen Nadelbäume, am Fuße des Berges eine Almhütte.
Überraschende Aussicht auf die Bayrische Wildalm

Endlich – die Gufferthütte!

Auf einem Fahrweg geht es leicht bergab, und hinter einem Hügel entdecke ich einen großen Schuppen und endlich auch das Dach der Gufferthütte!
Interessant, welche Reserven mein Körper da gerade anzapft, aber ich komme viel schneller voran als in den letzten zwei Stunden. Kurz denke ich an den gazellengleichen Senior aus dem Zwieselgraben.
Völlig verschwitzt, keuchend und mit schweren Beinen erreiche ich endlich die Terrasse der Gufferthütte und lasse mich im Schatten nieder.
Sofort kommt jemand, und ich kann mich anmelden, das Abendessen auswählen und ich bestelle ein großes Glas Rhabarberschorle. Kaum steht das Glas vor mir, ist es auch schon wieder leer und ich bestelle direkt ein zweites.
In diesem Moment ist es das leckerste Getränk, das ich jemals zu mir genommen habe.

Ein großes Glas Rhabarberschorle steht auf einem alten Holztisch. Ein blauer Rucksack steht auf der Bank gegenüber. Im Hintergrund sieht man den Eingang einer Alpenhütte., die Fenster haben grüne Fensterläden.
Das ist sie: die Gufferthütte!

Zu meiner Überraschung entdecke ich sogar bekannte Gesichter: die Gruppe vom Wanderparkplatz am Wildbad Kreuth. Sie haben zwei unterschiedliche Wege genommen: einen mit Klettereinlage und einen einfachen, hundefreundlichen.
Wir teilen uns das Bettenlager und ich bin froh, Ohropax und Schlafbrille dabei zu haben. Im Gegensatz zu Einzelgästen sind Gruppen auf Hütten meistens laut, und auch diese hier macht keine Ausnahme.
Aber ich bin so erschöpft, dass ich mich bald nach Dusche und Abendessen zurückziehe, noch ein wenig lese und dann einschlafe.

Ein holzvertäfelter Raum mit mehreren Schlafnischen für jeweils zwei Personen.
Auf den grauen Bettlaken liegen rote Alpenvereinsdecken und rot-weiß-karierte Kopfkissen.
Das Bettenlager in der Gufferthütte

Gehzeit inkl. Pausen: ca. 6,5 Std.
Strecke: 10 km
Höhenmeter: 890 hm auf/ 240 hm ab
Wertung Landschaft: 5/5

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Meine Alpenüberquerung: Tag 1 – Tegernsee-Kreuth

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Im Hintergrund ein Bergpanorama und der Tegernsee, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text:
Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing
Tag 1 Tegernsee-Kreuth

Donnerstag, 27. Juni

Dichte, schwere Wolken hängen über dem Tegernsee, als ich mittags in Gmund aus dem Zug steige.
Das Wasser des Sees wirkt grau, die Berge heben sich dunkel vor dem Stahlblau des Himmels ab. Meine Wetter-App warnte mich zwar vor Regen und Gewitter, aber ich bin die ganze Zugfahrt über optimistisch geblieben.
Nun ja.
Ich vergewissere mich, dass mein Regenzeug griffbereit ist und schultere meinen Rucksack.
12 Kilogramm, gequetscht in meinen dunkelblauen 38 Liter-Rucksack, der mich schon auf dem Jakobsweg durch Portugal und Spanien begleitete.
Zu viel Gewicht.
Dabei habe ich mein Gepäck schon arg reduziert und nehme nur drei Tagessets mit – eins am Körper, eins zum Wechseln und eins für den Fall, dass das Wechselset durch Regen oder von der allabendlichen Handwäsche im Waschbecken noch nicht trocken ist.
Und natürlich warme Sachen: eine Outdoor-Steppjacke mit kleinem Packmaß, dünne Handschuhe, ein multifunktionaler Schlauchschal. Eine dünne Sportjacke, Regenjacke, Merinoshirts. Der Zwiebellook ist der einzig sinnvolle Look auf so einer Tour, denn das Wetter in den Bergen ist unberechenbar und auch Ende Juni kann in hohen Lagen noch Schnee liegen.

Der Bahnhof in Gmund, am nördlichen Ende des Tegernsees gelegen, ist schick und sauber. So wie eigentlich alles hier. Man ist auf Touristen eingestellt, sie sollen sich wohlfühlen und gerne wiederkommen.
Eine kleine Gruppe Erwachsener mit leichten Rucksäcken versammelt sich um einen Wanderführer, ich kann die Aufregung spüren.
Wir setzen uns fast gleichzeitig in Bewegung und ich gehe zügig los, um noch vor der Gruppe am See zu sein. Niemand soll denken, ich würde mich ungefragt anschließen wollen.

Blick auf den Tegernsee, im Hintergrund mittelhohe Berge. 
Der Himmel spiegelt sich im See. Er ist wolkig-bedeckt, es gibt aber noch helle Stellen.
Der Tegernsee von Gmund aus gesehen

Jetzt beginnt sie also, meine Alpenüberquerung.
Seit Jahren träume ich davon, und nun ist es so weit. Ich stehe hier am Tegernsee und blicke in Richtung Süden, zu den Bergen, die für die nächsten Tage meinen Weg markieren werden. Hier sind sie noch niedrig, baumbestanden und erinnern mich eher an das Rothaargebirge als an die Alpen.
Was wird mich unterwegs erwarten?
Werde ich es tatsächlich schaffen, von hier aus durch Österreich zu wandern und in neun Tagen in Südtirol anzukommen?
Ja, ich kann das schaffen.
Ich habe den Jakobsweg geschafft, ich werde auch die Alpenüberquerung schaffen!
Trotzdem spüre ich leichte Zweifel.

Das Panorama vom Tegernsee

Die Wolken werden dichter und dunkler, spiegeln sich im See.
Auch hier ist alles sauber und gepflegt, die Strandpromenade lädt mit Bänken zum Rasten ein, eine Gruppe Jugendlicher macht sich zum Baden im See bereit. Ich denke an die Gewitterwarnung, sage aber nichts.
Stattdessen mache ich Fotos und melde mich bei meiner Familie.
Die Gruppe mit dem Wanderführer überholt mich und ich schlendere langsam weiter, um den Abstand zu vergrößern.
Nach einem kurzen Stück am See schickt mich meine Wanderapp über die Straße und ich bin kurz irritiert, weil ich die Schilder für den Weg nicht sofort finde. Aber eigentlich brauche ich die Hinweise gar nicht, mein Ziel ist ohnehin klar: Der Panoramaweg, der leicht erhöht am See entlangführt und schöne Aussichten verspricht.
Wohnen hier am Tegernsee nicht auch Manuel Neuer und andere Promis? Vielleicht läuft mir ja jemand Berühmtes über den Weg!
Doch vorerst vermutlich nicht, denn es beginnt zu regnen. Ich eile zu einem Holzstoß, um meinen Rucksack abzusetzen und die Regensachen hervorzuholen. Für mich die Regenjacke, für den Rucksack die orange Regenhülle.
Das fängt ja gut an!

Nach der nächsten Kurve entdecke ich die Wandergruppe, die, ebenfalls in bunte Regenkleidung gehüllt, unter einer Baumgruppe wartet und vom Wanderführer Instruktionen erhält.
Der Weg führt nun parallel zum See, mal durch Wald, mal zwischen Wiesen hindurch, und ab und zu kann ich einen Blick auf den See erhaschen. Es wird unangenehm warm unter der Regenjacke, aber mittlerweile tröpfelt es nur noch und ich ziehe die Jacke wieder aus.
An einem Aussichtsplatz mit Bänken lasse ich mich nieder, stopfe die Regenjacke zurück in den Rucksack und hole Brotdose und Fernglas hervor.
Die Wolken auf der gegenüberliegenden Seite lassen nichts Gutes erahnen, trotzdem ist auf dem See einiges los. Ich höre rhythmisches Trommeln und im Ausschnitt meines Fernglases entdecke ich drei Drachenboote.

Blick von einer Anhöhe auf den Tegernsee.
Im Vordergrund sieht man eine Wiese und Bäume, auf der gegenüberliegenden Seite des Sees sind Berge.
Der Himmel ist dunkel, es sieht nach Gewitter aus.
Blick vom Panoramaweg auf den Tegernsee

Die Wandergruppe erreicht den Aussichtspunkt und lässt sich nieder, wir kommen ins Gespräch. Sie sind, wie vermutet, ebenfalls Alpenüberquerer und der Wanderführer hebt die Brauen, als ich erkläre, an welchen Stellen ich den regulären Weg verlassen werde.
Kurz bin ich irritiert. Habe ich mich vielleicht übernommen, meine Fähigkeiten über- und den Weg unterschätzt?
Nein, bestimmt nicht.
Ich habe mich so intensiv mit der Wanderung beschäftigt, wochenlang, dass ich mir sicher bin, dass der Weg zu mir und meinen Möglichkeiten passt.
Kurz darauf packe ich meine Sachen wieder ein und gehe weiter, gespannt darauf, wie oft wir uns noch begegnen werden.

Bratwurst und Bier am Tegernsee und die Suche nach dem Stempel

Nach sieben Kilometern erreiche ich den Ort Tegernsee und steige hinab.
Mein Knie spielt noch gut mit, trotzdem trage ich eine Bandage unter meiner Sportleggings und nutze meine Wanderstöcke.
Zuerst suche ich einen Supermarkt, um mir Obst, Gemüse und Brötchen zu kaufen. Die morgige Etappe wird eine der anstrengendsten auf der ganzen Tour und es gibt unterwegs keine Einkehrmöglichkeit. Da habe ich lieber zu viel als zu wenig Essen dabei.
Außerdem will ich mir hier in Tegernsee den ersten Stempel für meinen Stempelpass holen!
Aber das hat noch Zeit.
Tegernsee hat ein eigenes Brauhaus direkt am See und ich finde, dass es sich hier angemessen in das Abenteuer Alpenüberquerung starten lässt. Mittlerweile haben sich die Wolken verzogen und die Sonne scheint, sodass ich mir einen Platz am Rand des Biergartens suche, von dem aus ich den Anlegesteg im Blick habe. Die Wandergruppe sitzt ebenfalls im Biergarten und ich nicke ihnen im Vorbeigehen zu, werde aber nicht bemerkt.
Bei alkoholfreiem Radler und Würstchen realisiere ich so langsam, wo ich bin und was da noch vor mir liegt.
Hammer! Was hab ich mir nur dabei gedacht?

Ein Teller mit Bratwürstchen, Kartoffelsalat und Senf steht auf einem alten Holztisch, daneben ein großes Glas Bier.
Ein blauer Rucksack steht auf der Sitzbank, im Hintergrund erahnt man den See.
Sehr bayrisch hier!

Mittlerweile ist es halb fünf und ich habe noch einiges an Weg vor mir – neun Kilometer, um genau zu sein. Und den Stempel brauche ich auch noch!
Ich zücke mein Handy und suche nach Busverbindungen nach Kreuth.
Vielleicht sollte ich es am ersten Tag nicht direkt übertreiben und langsam einsteigen, zumal es ja morgen in die Blauberge geht und mir 900 Höhenmeter und 13 Kilometer Strecke bevorstehen. Und da kann ich nichts abkürzen, da muss ich einfach irgendwie hoch. Egal, wie es meinem Knie geht.
Der letzte Bus von Tegernsee nach Kreuth fährt um 18.41 Uhr, ich habe also noch Zeit, mir den Stempel zu holen und vielleicht noch ein paar Minuten am See zu sitzen. Das klingt nach einem perfekten Plan!
An der Tourist-Info Tegernsee stehe ich allerdings vor verschlossener Türe – verschlossen erst vor wenigen Minuten, um 17 Uhr. Leichte Panik überkommt mich. Ich möchte doch meinen ersten Stempel haben!
Ein Schild verweist mich auf einen öffentlichen Stempel an der Rückseite des Hauses. Hurra!
Doch die Freude währt nur kurz, denn der Stempel befindet sich hinter einem Bauzaun. Ich schaue mich um. Kann ich vielleicht irgendwo durch den Bauzaun schlüpfen? Ein Element etwas beiseiteschieben, um an den Stempel zu gelangen?
Ich bin unsicher. Soll ich? Soll ich nicht?
Mir kommt eine andere Idee – vielleicht gibt es am Bahnhof, wo auch mein Bus abfährt, einen Stempel?
Für den Fall, dass auch das nicht klappt und ich irgendwann mal irgendjemandem beweisen muss, dass ich auch wirklich den gesamten Weg gegangen bin, mache ich Fotos von der Stempelstelle hinter dem Bauzaun.
Man weiß ja nie!

Ein älteres gelbes Haus im bayrischen Stil, an der Hauswand erkennt man das Logo der Alpenüberquerung und darunter hängt ein Kasten, in dem sich vermutlich der Stempel befindet.
Doch man sieht, dass zwischen Fotografin und Haus ein Bauzau steht.
Die unerreichbare Stempelstelle
Pause am Tegernsee
(mit Finger im Bild)

Ankunft in Kreuth

Am Bahnhof habe ich tatsächlich Glück, das Kassenhäuschen ist besetzt und ich bekomme meinen Stempel.
Und der Bus bringt mich ganz bequem nach Kreuth zu meiner Unterkunft im Handlhof. Unterwegs bin ich froh, mich für den Bus entschieden zu haben, denn das Knie muckert nun doch und der Weg hierher erscheint mir auch nicht so unfassbar toll, dass er unbedingt gegangen werden muss.
Nach der Pause am See hätte ich mich ohnehin nur schwer motivieren können.

Mein Zimmer im Handlhof hat einen Balkon, sodass ich nach der Dusche erstmal meine Klamotten wasche und draußen aufhänge.
Auf dem Bett liegend kann ich direkt auf die Blauberge schauen, mein Ziel für morgen. Da will ich wirklich hoch?
Ich bin skeptisch und stöbere ein wenig im Internet. Ja, diese Etappe ist anstrengend, aber letztlich für die meisten Wanderer machbar.
Nur, dass ich ja gar nicht den Normalweg zur Blaubergalm nehme, sondern mich für den weiteren und anstrengenderen Weg zur Gufferthütte entschieden habe!
Mit gemischten Gefühlen schlafe ich ein.

Ein Blick aus einem hölzernen Sprossenfenster mit Gardinen.
Man sieht rote Geranien und eine Kirche, weiter hinten erhebt sich ein Bergrücken
Da geht es morgen hoch!

Gehzeit inkl. Pausen: 2:45 Std.
Strecke: 7 km
Höhenmeter: 120 hm auf/ 120 hm ab
Wertung Landschaft: 3/5

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Meine Alpenüberquerung vom Tegernsee nach Sterzing – die Vorbereitung

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Im Hintergrund ein Bergpanorama, im Vordergrund ein hellblauer Kreis mit dem Text: Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing Vorbereitung

Die „offizielle“ Alpenüberquerung vom Tegernsee in den bayrischen Voralpen über das Zillertal und den Alpenhauptkamm in Österreich bis nach Sterzing in Südtirol dauert sieben Tage.
Der Weg wird als „Alpenüberquerung für Jedermann“ bezeichnet und gilt als unschwierig. Man muss nicht klettern, es gibt quasi keine ausgesetzten Stellen, die Etappen sind bezüglich Länge und Höhenmetern überwiegend moderat.
Viele Teilstücke werden mit Bus, Bahn, Seilbahn oder Schiff überwunden, übernachtet wird überwiegend im Tal und wer will, kann sich sogar sein Gepäck von Unterkunft zu Unterkunft bringen lassen und mit leichtem Tagesgepäck wandern.
Es gibt die Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing auch als Komplettpaket mit Führung in Kleingruppen und Gepäcktransport.

Eine Alternative zum Hauptweg

Mir war schnell klar, dass ich so selbstständig und frei wie möglich wandern möchte.
Ich finde das Angebot solcher „Rundum-sorglos“-Pakete grundsätzlich gut, weil es eben viele unterschiedliche Ansprüche und Vorstellungen von so einer Wanderung gibt. Manche/r ist nicht fit genug, fühlt sich in einer Gruppe wohler, hat körperliche oder mentale Herausforderungen zu meistern und kann sich damit trotzdem einen großen Wunsch, vielleicht sogar einen Lebenstraum, erfüllen.

Aber meins ist das nicht.
Ich bin leidenschaftliche und überzeugte Alleinwanderin und für Gruppen wahrscheinlich ohnehin zu langsam. Wandern ist für mich Freiheit von Zwängen, von Angepasstsein, von den Erwartungen und Vorstellungen anderer. Ich bin auch gerne mit mir und meinen Gedanken alleine und genieße es, mich völlig auf den Moment einzulassen und meinen eigenen Weg in meinem Tempo zu gehen.
Auch auf dem Jakobsweg hat es mir viel Spaß gemacht, tagsüber alleine zu wandern und abends mit anderen zusammenzusitzen, zu quatschen und den Weg Revue passieren zu lassen. Es gab gute und offene Gespräche, die so vielleicht nur mit Fremden geführt werden, die man vermutlich nie wieder sieht.
Ich war also guter Dinge, dass es auf der Alpenüberquerung ähnlich wird.
Immerhin gibt es doch so viele und tolle Eindrücke auf so einer Wanderung!
Doch in diesem Punkt sollte ich mich irren, aber das könnt Ihr in einem anderen Beitrag lesen.

Etappenauswahl

Nach meinem Entschluss, die übliche Route vom Tegernsee nach Sterzing abzuwandeln, habe ich mir Wanderkarten und -bücher besorgt, viel im Netz und einer Facebook-Gruppe gestöbert und mich stundenlang durch die Wander-App Komoot geklickt.
Mein Anspruch war, so viel wie möglich zu laufen, ich wollte aber trotzdem die Option ÖPNV als Backup haben, falls es meinem Knie nicht besser ginge (falls Ihr den vorherigen Beitrag nicht gelesen habt: Ich laboriere schon seit Monaten an einer Überreizung des linken Knies nach einer Überlastung auf dem Mammutmarsch im Ruhrgebiet. Dafür kann allerdings der Mammutmarsch nichts …).
Außerdem wollte ich möglichst oft auf dem Berg übernachten und nicht jeden Abend ins Tal hinabsteigen müssen (nur um dann am nächsten Morgen mit Bus oder Bahn wieder nach oben zu fahren).
Es dauerte mehrere Tage, bis ich endlich meine Route zusammengestellt hatte.
Die Etappen sollten nicht zu lang sein (höchstens 20 km), nicht zu viele Höhenmeter haben (möglichst unter 1000 Hm) und in einem Ort bzw. auf einer Hütte enden. Oder zumindest an einer Bushaltestelle, um von dort zu meiner Unterkunft fahren zu können und morgens wieder zurück an die Ausstiegsstelle.

Ein Bergpanorama mit Bergen, Nadelbäumen auf einer Wiese und weißen Wölkchen am Himmel.
Ein Pausenplatz irgendwo an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich

Die Unterkünfte

Als schwierig – und teuer! – stellte sich die Unterkunftssuche heraus.
Fast die gesamte Route verläuft durch touristisch gut erschlossenes Gebiet (es heißt sogar, dass die Route extra so gewählt wurde, um möglichst viele Gemeinden mit einzubeziehen), was zwar zu einer größeren Auswahl an Unterkünften führt, aber auch zu mitunter deutlich hohen Preisen.
Besonders am Tegernsee und am Achensee waren die Übernachtungspreise hoch, manche Zimmer wurden auch gar nicht für nur eine Nacht vermietet.
In diesem Jahr scheint die Unterkunftssuche sogar noch schwieriger zu sein, wie ich lese. Mir scheint, dass die kommerziellen Anbieter zunehmend mehr Betten belegen, sodass die Auswahl für Individualreisende noch schwieriger wird.

Mit meiner Unterkunftssuche begann ich im Januar und damit ein halbes Jahr im Voraus, doch viele günstige Hotels oder Pensionen waren zu dieser Zeit schon ausgebucht. Das hängt sicher auch mit den Kontigenten der professionellen Reiseanbieter zusammen.
Durch mehrere Absagen musste ich meine Streckenführung immer wieder abwandeln, doch Ende Februar waren dann alle Unterkünfte und die Bahntickets für Hin- und Rückreise gebucht und ich konnte mich entspannt zurücklehnen.

Meine Etappen

Meine eigene Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing unterschied sich teilweise von der offiziellen Strecke, manche Etappen waren wiederum identisch.
Durch meine eigene Wegführung war ich auch nicht die üblichen sieben Tage unterwegs, sondern neun.

Meine Etappen:

  1. Tag: Gmund am Tegernsee – Kreuth
  2. Tag: Kreuth – Gufferthütte
  3. Tag: Gufferthütte – Achenkirch
  4. Tag: Achenkirch – Erfurter Hütte (Maurach)
  5. Tag: Erfurter Hütte – Baumannwiesköpfl
  6. Tag: Baumannwiesköpfl – Hochfügen
  7. Tag: Hochfügen – Dominikushütte (Schlegeisspeicher)
  8. Tag: Dominikushütte – Kematen
  9. Tag: Kematen – Sterzing

Alles Weitere – Länge, Höhenmeter, Besonderheiten, Übernachtung – kommt dann ausführlich bei den einzelnen Etappen in eigenen Beiträgen.

Anreise

Streckenwanderungen haben den Nachteil, dass man, wenn man mit dem Auto anreist, am Ende wieder zurück zum Anfang muss.
Bei der Anreise mit der Bahn ist das zum Glück egal, ich kann vom Endpunkt aus direkt nach Hause fahren.
Wenn man nicht gerade auf den letzten Drücker bucht, kann man mit Spar- und Super-Sparpreisen relativ günstig mit der Bahn an- und wieder abreisen.
Die Anreise von Siegen über Frankfurt und München nach Tegernsee war im ICE ziemlich entspannt, auf der Rückreise aus Sterzing fuhr ich dann über Innsbruck, München und Frankfurt wieder retour.
Sonderbarerweise war ich sogar eine Stunde früher zuhause als geplant – so kann es also auch gehen!

Es gibt auch die Möglichkeit, mit dem Auto anzureisen, das Fahrzeug dann gegen Entgelt am Tegernsee zu parken und am Ende von Sterzing aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln wieder zurück zum Tegernsee zu fahren.
Von Sterzing nach Tegernsee fahren Züge, es soll aber auch einen Flixbus über den Brenner geben.

Da ich aber wirklich gerne Bahn fahre, kam für mich das Auto nicht infrage. Ich würde die Anreise mit der Bahn auch jederzeit empfehlen. So ärgerlich eine Verspätung auch ist: Nach so einem tollen Urlaub wollte ich definitiv nicht irgendwo im Stau stehen. Das hätte mir ziemlich viel Erholung und Entspannung genommen.

Ein blauer Wanderrucksack steht auf einem Sitz in einem Zug. Wanderstöcke stecken in Schlaufen, man sieht einen Aufnäher mit der gelben Jakobsmuschel vom Caminho Portugues
Mit dem Rucksack lässt sich prima Bahnfahren

So geht es weiter

Am Ende der Reihe gebe ich noch ausführlichere Tipps zum Gepäck, zu Herausforderungen beim Wandern und erzähle auch, warum man diesen – und andere! – Wege auch gut als Frau alleine gehen kann – spezielle Tipps inklusive.

Aber jetzt lade ich dich erstmal ein, mich bei meiner Alpenüberquerung von Tegernsee nach Sterzing zu begleiten.


Hier geht es los:

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Die Alpen überqueren – mein lang gehegter Wunsch

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Im Hintergrund ein Bergpanorama, im Vordergrund der Text im hellblauen Kreis:
Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing.
Warum?

Jakobsweg vs. Alpenüberquerung

Eine Alpenüberquerung stand schon seit vielen Jahren auf meiner Bucket-List, also einer (gedanklichen) Liste von Dingen, die ich unbedingt einmal machen möchte.
Früher war eine Alpenüberquerung für mich undenkbar: Ich habe Höhenangst, kann nicht klettern, bin für eine Gruppenwanderung zu langsam. Und vielleicht auch zu eigen.
Also probierte ich das Fernwandern auf einem zwar langen, aber einfach zu gehenden Weg aus: dem portugiesischen Jakobsweg.
Der Caminho Portugues beginnt in Portugals Hauptstadt Porto und endet nach etwa 260 Kilometern und 13 Tagen vor der berühmten Kathedrale in Santiago de Compostela.
Die Infrastruktur ist auch für Anfänger prima geeignet und man lernt unterwegs wirklich ganz leicht Leute kennen, wenn man mag.
Das war ein ganz wundervolles Erlebnis, von dem ich auch heute noch zehre und bei dem ich mich noch einmal ganz neu kennengelernt habe.
Meine Erfahrungen auf dem Jakobsweg kannst du hier nachlesen: Der Portugiesische Jakobsweg Caminho Portuguese.
Getreu dem Motto „Einmal Camino, immer Camino“ hatte ich direkt im Anschluss schon den nächsten Camino geplant: den Camino del Norte.
Das war 2019.
Doch dann kam 2020 und das, was wir wohl alle am liebsten wieder vergessen würden.
Und mit den Belastungen durch die Pandemie rückten der Camino del Norte und weitere Langstreckenwanderungen in wahrhaft weite Ferne.

Damit mir zu Hause nicht die Decke auf den Kopf fiel, schaute ich – zumindest gefühlt ;) – das Internet leer. Ich glaube, ich habe alle Reise-, Fernreise-, Wander- und Abenteuer-Doku sowohl auf YouTube als auch in den Mediatheken von ARD und ZDF angeschaut.
Dabei entdeckte ich auch eine für mich damals unbekannte Route, um die Alpen zu überqueren: Die Route Tegernsee-Sterzing.
Sie wurde als relativ einfach und als „Alpenüberquerung für jedermann“, als eine „Tour für Genießer“ bezeichnet.
Eine Alpenüberquerung ohne Klettern, ohne ausgesetzte Stellen – „normale“ Kondition und Bergerfahrung reichen aus. Und vielleicht kann man den Weg sogar alleine gehen?
Da wurde ich natürlich sofort hellhörig!

Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt …

Nachdem ich mir viele Videos, Webseiten und Karten angeschaut hatte, stand mein Plan fest: Ich werde es versuchen und auf dieser Route die Alpen überqueren. Alleine und ohne Führung, ohne Gruppe.
Also habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt, viel geplant, Unterkünfte gebucht, meine Ausrüstung optimiert und war guter Dinge, im Sommer 2023 die Alpen zu überqueren.

Anfang des Jahres begann ich mit dem Training, ging oft walken und wandern, wollte meine Fitness steigern und mich auch durch längere Wanderungen vorbereiten.
Ich war wirklich gut im Training, und als dann im März 2023 die Werbung für den Mammutmarsch im Ruhrgebiet aufploppte, habe ich mich kurzerhand angemeldet.
Ich war ja gut in Form, da konnte ich neben einem neuen Trainingsanreiz auch gleich noch eine neue Herausforderung meistern.
Nun ja.
Wer meinen Blogpost zum „Mammutmarsch“ (Mammutmarsch Ruhrgebiet – ein gemischtes Fazit) gelesen hat, kennt das Ergebnis:
Die 30 km habe ich zwar geschafft, aber mein Knie hat mir einen sprichwörtlichen Vogel gezeigt.
Durch die hohe Beanspruchung (der Weg ging hauptsächlich über Asphalt) habe ich eine sehr schmerzhafte Überreizung davongetragen, an der ich übrigens bis heute laboriere (dazu später mehr).

Nach Besuchen beim Orthopäden und im MRT beschloss ich im Sommerurlaub im Montafon, in dem ich kaum laufen konnte, die Alpenüberquerung 2023 abzusagen.
Die Entscheidung fiel mir sehr schwer, aber mit dem kaputten Knie konnte ich unmöglich mehrere Tage lang über die Alpen wandern. Ich konnte ja nicht mal Strecken bewältigen, die länger als drei oder vier Kilometer lang waren.
Also verschob ich meinen Plan auf das folgende Jahr.

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