Freitag, 05. Juli
Auch heute, am letzten Tag meiner Alpenüberquerung, werde ich wieder vor dem Wecker wach. Durch die Vorhänge vor dem Fenster scheint die Sonne ins Zimmer, doch ich mag noch nicht aufstehen.
Dabei kann ich das, was mir heute bevorsteht, ja doch nicht aufhalten – und eigentlich will ich das auch gar nicht.
Heute werde ich Sterzing erreichen.
Heute werde ich meine Alpenüberquerung beenden.
Ich bin hin- und hergerissen. Ein Teil von mir will unbedingt nach Sterzing, der andere Teil würde am liebsten umkehren und noch einmal von vorn anfangen.
Erinnerungen
Ich denke an den Anfang meiner Wanderung am Tegernsee zurück und an die lange Zugfahrt vorher. Am ersten Tag war noch alles möglich; von A wie Abbruch bis Z wie Zillertal bei Sonnenschein hätte alles passieren können.
Nach dem Tag am Tegernsee kam der lange Aufstieg zur Gufferthütte am zweiten Tag und der schnelle Abstieg nach Achenkirch an Tag drei.
Den toll-vollen Mariensteig am Achensee habe ich am vierten Tag erlebt, genau wie das Unwetter auf der Erfurter Hütte. Am nächsten Tag ging ich bei Dauerregen zuerst über den Inn und anschließend durchs Öxlbachtal zum Baumannwiesköpfl, wo ich so nett umsorgt wurde.
Danach folgten zwei Tage Nebel im Zillertal, und erst an Tag acht, also gestern, kam endlich wieder die Sonne heraus. Zum Glück, denn so konnte ich den schönsten Streckenabschnitt zum Pfitscherjoch ganz besonders genießen.
Und heute, an Tag neun, geht es nach Sterzing.
Motiviert stehe ich auf, dusche, packe meine Sachen und humple hinunter zum Frühstücken in den Speisesaal.
Mein Knie nimmt mir den anstrengenden Abstieg vom Pfitscherjoch noch übel und ich hoffe, dass es im Laufe der bevorstehenden Wanderung besser wird.
Zum Frühstück gibt es leckere Backwaren und viele selbstgemachte Südtiroler Spezialitäten. Ein Tag, der so beginnt, kann einfach nur gut werden!
Wenig später bin ich, wie jeden Morgen meiner Wanderung, wieder mit Sack und Pack auf meiner nächsten – und letzten! – Etappe.
Im Pfitschtal
Bei dem sonnigen Wetter trage ich Wandershorts, dazu am linken Knie die Bandage und ich frage mich, ob ich am Ende wohl ein weißes linkes und ein gebräuntes rechtes Bein haben werde. Oder ein linkes Bein mit dickem weißem Streifen?
Aber vielleicht ist es auch egal, weil ich die Bandage wohl vorerst nicht mehr ausziehen werde.
Nach dem ersten Kilometer muss ich mir eingestehen, dass mein kleiner Traum wohl nicht wahr wird: Der erleichterte, glückliche und stolze Einmarsch in Sterzing/Vipiteno, den berühmten Zwölferturm im Ortszentrum immer im Blick. Quasi die kleinere Version meiner Ankunft in Santiago de Compostela.
Das macht mein Knie leider nicht mit.
Nach etwas mehr als vier Kilometern durch Wald und über Weiden erreiche ich die Landstraße. Im Örtchen Ried/Novale sitzen bereits Alpenüberquerer an der Bushaltestelle und ich überlege gar nicht lange und setze mich dazu.
Kurz darauf kommt der Bus, ich steige ein, löse ein Ticket und lasse mich die letzten zehn Kilometer fahren.
Berge, Wege, Wälder, Wiesen und Orte ziehen an mir vorüber.
Zu meiner Überraschung geht es noch einige Höhenmeter bergab – ich habe nicht erwartet, dass Kematen/Caminata trotz des steilen Abstiegs immer noch so weit oben liegt.
Der Bus saust durchs Pfitschtal/Val di Vizze, ab und zu sehe ich Wanderer auf den Wegen und widerstehe dem Impuls, auf den Halteknopf zu drücken.
Das Knie schmerzt im Gegensatz zu den anderen Tagen immer noch, dabei haben wir schon fast Mittag. Bisher tat es höchstens abends nach den Wanderungen weh, war aber am nächsten Tag schmerzfrei.
Aber es ist nicht nur das Knie – soo toll erscheint mir der restliche Weg nun auch wieder nicht, dass ich ihn unbedingt laufen müsste.
Trotzdem geht mir alles zu schnell.
Der Bus erreicht Sterzing nach einer Viertelstunde, während ich für die Strecke zu Fuß drei oder vier Stunden gebraucht hätte.
Stunden, in denen ich mich auch mental auf das Ende meiner Wanderung hätte vorbereiten können.
Aber: hätte-hätte-Fahrradkette.
Mein Körper sagt deutlich nein, und ich bin froh und dankbar, dass ich es trotz allem geschafft habe.
Ich habe die Alpen überquert!
In Sterzing – und nun?
Wir fahren durch Wiesen/Prati und ich versuche, den Rieplhof zu entdecken, in dem ich für die nächsten beiden Nächte ein Zimmer gebucht habe. Die letzte Unterkunft auf meiner Reise!
Wenige Minuten später erreicht der Bus Sterzing, wir fahren am Bahnhof vorbei, Leute steigen aus und ein, und kurz danach fahren wir in den Busbahnhof ein.
Routiniert schnalle ich mir den großen Rucksack auf den Rücken, packe die Wanderstöcke aus, ziehe die Kniebandage gerade und gehe zur Fußgängerzone.
Den Zwölferturm sehe ich schon von weitem, mein endgültiges Ziel ist also wirklich nah!
Sterzing entpuppt sich als schicke kleine Stadt mit einer gepflegten historischen Innenstadt.
Ich gehe durch die Fußgängerzone, und noch ehe ich den Zwölferturm erreiche, entdecke ich zwei bekannte Gesichter: Die beiden Italiener, die mich gestern im Auto mitgenommen haben!
Wir unterhalten uns kurz mit Händen und Füßen, lachen – und dann geht jeder wieder seines Weges.
Tja, und dann stehe ich plötzlich vor dem Turm.
Wie viele Bilder von stolzen Alpenüberquerern vor Sterzings Wahrzeichen habe ich in den letzten Wochen und Monaten gesehen? Unzählige.
Möchte ich ein Foto von mir vor dem Turm haben? Nein.
Irgendwie habe ich kein passendes Gefühl dafür. So wie ich ohnehin gerade kein Gefühl für die Situation habe.
Es fühlt sich unwirklich an. Wie Sightseeing in einer fremden Stadt, wo ich mich umschaue, Fotos mache und versuche, mir einen Überblick zu verschaffen.
Wir haben Mittag, das Städtchen ist voll, die Sonne scheint.
In einem Straßencafé entdecke ich einen freien Platz und setze mich. Von hier aus kann ich auf den Zwölferturm blicken, das Sinnbild der Alpenüberquerung.
Wer hier ankommt, hat es geschafft.
Ich mache ein Foto von meinem Eiskaffee mit dem Turm im Hintergrund und schicke es meiner Familie:
Angekommen!, schreibe ich. Aber auch: Mein Körper ist zwar in Sterzing, aber mein Kopf ist noch oben in den Bergen.
Es ist immer noch unwirklich.
Nach dem Eiskaffee schnalle ich mir erneut den Rucksack auf den Rücken und schlendere durch die Stadt.
Am Marktplatz stehen große Sonnenschirme, darunter hat eine größere Gruppe die Tische und Stühle zusammengestellt und feiert ganz offensichtlich ihre Alpenüberquerung.
Auch in anderen Lokalen und allgemein auf den Straßen sehe ich viele Wanderer, von denen einige erkennbar ebenfalls die Alpenüberquerung gemacht haben. Manche halten Urkunden in der Hand, andere tragen entsprechende T-Shirts, Buttons oder Bändchen am Handgelenk.
Irgendwie kann ich den Stolz und die Freude der anderen noch nicht teilen. Irgendetwas fehlt mir noch. Ich entdecke auf meinem Rundgang einen kleinen Park und setze mich auf eine Bank, lehne den Rucksack dagegen und strecke meine Beine aus.
Vielleicht fehlt mir auch einfach jemand, der das Ereignis mit mir feiert, der mir rückmeldet, was ich da überhaupt gemacht habe?
Also fotografiere ich meine ausgestreckten Beine mit den schmutzigen, abgewetzten Wanderstiefeln und schicke einen kurzen Facebookpost:
Verdammt! Ich bin gerade neun Tage lang alleine über die Alpen gewandert und sitze nun in Sterzing in Südtirol und kann es noch gar nicht fassen …
Die Reaktionen meiner Freunde und Bekannten helfen mir, alles so langsam zu realisieren.
Aber ein unbestimmtes leeres Gefühl bleibt.
Schüttelbrot in Bozen
Samstag, 06. Juli
Gestern, am Tag meiner Ankunft, fuhr ich nach den Spaziergängen durch Sterzing zuerst zu meiner Unterkunft in Wiesen/Prati und anschließend wieder zurück nach Sterzing.
Auf dem Marktplatz wurde das EM-Spiel Deutschland:Spanien auf Großleinwand übertragen, dem sowohl Spanien- als auch Deutschlandfans folgten.
Auch wenn Deutschland am Ende ausschied, war der Abend eine nette Abwechslung zu den zumeist ruhigen Leseabenden in Hotel-, Hütten- oder Pensionsbetten.
Die Gästekarte, die ich mit meinem Zimmer im Rieplhof automatisch mitgebucht habe, ermöglicht mir kostenlose Fahrten mit Bussen und Bahnen – also nutze ich die Gelegenheit und fahre heute mit dem Zug über Brixen nach Bozen. Der perfekte Übergang zwischen den Wanderungen in den Bergen und dem Alltag zuhause in Deutschland!
Bozen ist wirklich schön mit einer sehenswerten Altstadt voller Leben, einem großen Markt mit vielen Südtiroler Leckereien und mit südeuropäischem Flair.
Also kaufe ich mir auf dem Markt Käse, frisches Brot und einen Kaffee und setze mich vor einer imposanten Kirche in den Schatten.
Später schlendere ich durch die Gassen, mache viele Fotos und kann mich in der Buchhandlung kaum zwischen den vielen Romanen über die Geschichte Südtirols entscheiden.
Doch irgendwann werde ich fündig, packe das Buch in meinen kleinen, faltbaren Rucksack, kaufe noch handgemachtes Schüttelbrot und gehe zurück zum Bahnhof.
Bei der Rückfahrt durch die Berge Südtirols stellt sich nun langsam doch ein Gefühl des Angekommenseins ein.
Vielleicht war dieser Urlaubstag in Bozen das Puzzlestück, das mir noch gefehlt hat.
Die Heimreise
Sonntag, 08. Juli
Heute geht es nach Hause!
Nach dem Frühstück fahre ich mit dem Bus nach Sterzing.
Das Wetter ist schlechter geworden, es ist regnerisch und kühl.
Ich sitze am Bahnhof, denke an den vielen Nebel und den Regen unterwegs und daran, wie unbeständig doch das Wetter in den Bergen sein kann.
Und dass es okay ist, heute wieder nach Hause zu fahren.

Es gibt Durchsagen am Bahngleis; die italienische verstehe ich nicht, aber die deutsche lässt meinen Puls in die Höhe schnellen: Mein Zug fällt aus!
Hektisch klicke ich in meiner Bahnapp herum, aber die Angaben dort stimmen nicht mit denen aus der Durchsage überein. Und nun?
Auch die anderen Reisenden am Bahnsteig tippen auf ihren Handys herum und diskutieren.
Na prima!
Ich beschließe, einfach den erstbesten Zug nach Innsbruck zu nehmen. Von dort aus komme ich irgendwie nach München, und wenn ich erstmal in Deutschland bin, komme ich auch nach Hause. Und wenn ich zur Not irgendwo unterwegs eine zusätzliche Übernachtung einplanen muss.
Aber ich habe jetzt mit Sterzing und Südtirol abgeschlossen – zumal ich hier auf dem Bahnsteig mit regennassen Klamotten sitze und friere.
Grenzenloses Europa? Von wegen!
Irgendwann kommt ein Zug, der weder zur Uhrzeit meines Zuges passt noch zur Uhrzeit des Folgezuges. Egal, ich steige ein. Es ist zwar ein teurerer Fernzug, aber sollte es mit dem Ticket Probleme geben, werde ich die Situation bestimmt klären können.
Aber alles ist in Ordnung, mein Ticket wird bei der Kontrolle akzeptiert und ich fahre bei Regen und dichten Wolken immer am Brenner entlang und überquere bald die Grenze nach Österreich.
Vorher müssen wir alle am Bahnhof Brenner/Brennero umsteigen, um mit einem anderen Zug weiter nach Innsbruck zu fahren. Noch immer kann ich kaum etwas von der Gegend sehen, weil alles von tiefhängenden Wolken eingehüllt wird.
Den Schildern am Bahnhof entnehme ich, dass ich irgendwann durch Jenbach im Inntal komme, das ich auch zu Fuß nur bei Regen kennengelernt habe.
Meine Vorstellung, auf der Rückreise bequem vom Zugfenster aus die Berge betrachten und genießen zu können, wird vom Wetter zunichtegemacht.
Nicht zum ersten Mal auf meiner Reise.
Ob es um Innsbruck herum Berge gibt, weiß ich nicht. Ich sehe ja nichts.
Der Umstieg ist unkompliziert, und der Zug, der mich nach Kufstein kurz vor der deutschen Grenze bringen soll, ist nagelneu. In diesem Zug werden Fahrräder hochkant nebeneinander transportiert, was erheblich praktischer und platzsparender ist als die Lösungen der Deutschen Bahn.
In Kufstein habe ich zuerst Mühe, das richtige Bahngleis zu finden, kann mich aber rechtzeitig in den völlig überfüllten Zug stopfen und finde sogar noch einen Sitzplatz.
Bestand die Grenzkontrolle zwischen Italien und Österreich lediglich in einer Beobachtung der Umsteigenden auf dem Bahnhof Brenner/Brennero, werden hier an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland Pässe kontrolliert.
Ich bin nicht überrascht, dass ich als weiße Reisende nur mein Ticket vorzeigen muss, die dunkelhäutige Familie auf dem Vierersitz schräg gegenüber aber lang und breit diskutieren und alle möglichen Zettel vorzeigen muss.
Deutschland erfüllt wirklich jedes Klischee und ich schäme mich.
Weil der Zug in Kufstein angeblich mit Verspätung München erreichen soll, wird die Zugbindung aufgehoben.
Durch ein Wirrwarr an Verspätungen, die dann doch keine sind, kann ich ab München einen anderen Zug nach Hause nehmen, und so komme ich nach zehn Stunden Zugfahrt sogar eine Stunde früher als geplant in Siegen an.
Meine Familie holt mich erwartungsvoll ab, aber mein Kopf ist so vollgepackt mit Eindrücken, dass ich erstmal gar nicht viel erzählen kann.
Aber das Wichtigste ist:
Ich bin gesund und verletzungsfrei wieder zu Hause angekommen.
Alles andere hat seine Zeit.
Neun Tage Alpenüberquerung:
Gehzeit ohne Pausen: 36 Std.
Strecke: 101 km
Höhenmeter: 4480 m
Wertung Landschaft gesamt: 4/5
Mein Fazit
Die Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing ist eine machbare Alternative für alle, die sich die Klassiker Oberstdorf-Meran oder München-Venedig nicht zutrauen oder nicht die nötige Zeit aufbringen können.
Die Wege sind unschwierig, man muss nicht klettern und die Höhenmeter halten sich in Grenzen.
Trotzdem braucht man Kondition und sollte trittsicher sein. Erfahrung in den Bergen ist besonders beim Alleinwandern wichtig und Basics wie z.B. Kenntnisse über das Wetter oder das Verhalten in den Bergen gehören unbedingt dazu.
Aber wer mehrtägige Wanderurlaube in den Bergen kennt, kann die Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing gut schaffen.
Außerdem gibt es auf den meisten Etappen Ausstiegspunkte, um notfalls mit dem Bus oder anderen Verkehrsmitteln weiterzukommen. Man kann aber auch viele Etappen gleich ganz überspringen, falls es nötig wird.
Wer nicht über einen Anbieter bucht, kann noch einen Tag in Sterzing oder Umgebung dranhängen. Das ist gut für den Körper, um einen Gang runterzuschalten und nicht nach nur einer Nacht direkt wieder viele Stunden im Zug oder gar im Auto zu sitzen.
Es lohnt sich aber auch für den Kopf, um das Erlebte in Ruhe und entspannt in schöner Kulisse zu verarbeiten.
Manche Unterkünfte in Sterzing bieten die SterzingCard, mit der man im weiten Umkreis kostenlos Busse, Bahnen und Bergbahnen nutzen kann oder Ermäßigungen in Bädern oder kulturellen Einrichtungen bekommt.
Ein Tag Urlaub zwischen der Alpenüberquerung und dem Alltag zu Hause ist definitiv etwas, das man sich nach Möglichkeit gönnen sollte.
Würde ich die Alpenüberquerung noch einmal machen?
Ja!
Bei der intensiven Beschäftigung für meine Blogbeiträge habe ich den Kern meiner oben erwähnten „Leere“ gefunden: Es war das Wetter.
Zwei der schönsten Etappen, nämlich die beiden im Zillertal, musste ich bei Regen und im Nebel gehen.
Deshalb blieb die Belohnung nach der Anstrengung, nämlich der tolle Fernblick, komplett aus. Nach Nebel kam Nebel, kamen Wolken, kam Nebel.
Ich habe mich quasi für nichts gequält, habe keine Pausen gemacht und konnte keine Gegend genießen.
Deshalb habe ich beschlossen, meine Etappen sechs und sieben (im Original vier und fünf), also die Strecke von Fügen über Hochfügen nach Mayrhofen, noch einmal zu gehen.
Die Zugtickets und die Zimmer sind bereits gebucht und ich setze darauf, diesmal besseres Wetter zu haben. Es muss nicht heiß sein und ein paar Wolken machen mir nichts aus – solange ich ein bisschen von den Bergen sehen kann.
Ich glaube ja fest daran, dass das Zillertal ein lohnenswertes Ziel ist!
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