16 Summits oder 16 Gipfel – hoch hinaus in Deutschland

Das hohe hölzerne Gipfelkreuz des Langenbergs. Im Vordergrund ein großer Stein mit Plakette, ein roter Rucksack ist angelehnt. Im Hintergrund grün belaubte Bäume und ein Stück einer hölzernen Hängematte.
Gipfelkreuz auf dem Langenberg, Nordrhein-Westfalen

Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal auf die Idee stieß, aber ich war sofort angefixt:
Bei der 16 Summits– oder 16 Gipfel-Challenge geht es nicht um die 16 höchsten Berge Deutschlands, sondern um die jeweils höchste natürliche Erhebung eines jeden Bundeslandes. Mit Bergen im landläufigen Sinn hat es also nicht immer etwas zu tun.

Ich bin ja Fan von Zahlen und Statistiken, und vom Wandern sowieso. Also war schnell klar, dass ich das auch machen will … ?
Es gibt keine Stempelkarten, keine Anmeldung, nicht mal eine Facebookgruppe.
Aber viele Wanderer, die diese Idee aufschnappen und auf eigene Faust losziehen.

Mittlerweile habe ich die Hälfte geschafft und werde nach und nach hier im Blog darüber berichten. Vielleicht gibt es unter euch ja Nachahmerinnen oder jemanden, der noch eine neue Idee zum Wandern sucht? Oder habt Ihr euch ohnehin schon auf den Weg gemacht?

Hier habt Ihr schon mal eine Liste – Ihr werdet sehen, dass die Herausforderungen unterschiedlicher kaum sein können!

  • Baden-Württemberg: Feldberg (1493 Meter)
  • Bayern: Zugspitze (2962,1 Meter)
  • Berlin: (Arkenberge 120,7 Meter /künstl. Aufschüttung; höchste natürlich Erhebung: Großer Müggelberg (114,7 Meter)
  • Brandenburg: Kutschenberg (201 Meter)
  • Bremen:  Erhebung im Friedehorstpark (32,5 Meter)
  • Hamburg: Hasselbrack (116,2 Meter)
  • Hessen: Wasserkuppe (950 Meter)
  • Mecklenburg-Vorpommern: Helpter Berge (179,2 Meter)
  • Niedersachsen: Wurmberg (971,2 Meter)
  • Nordrhein-Westfalen: Langenberg (843,2 Meter)
  • Rheinland-Pfalz: Erbeskopf (816,3 Meter)
  • Saarland: Dollberg (695,4 Meter)
  • Sachsen: Fichtelberg (1214,8 Meter)
  • Sachsen-Anhalt: Brocken (1141,2 Meter)
  • Schleswig-Holstein: Bungsberg (167,4 Meter)
  • Thüringen: Großer Beerberg (982,9 Meter)

Neue Blogeinträge werde ich an dieser Stelle verlinken.
Ein paar Bilder gibt es schon auf meinem Instagram-Account krimi_camperin.

Juckt es euch schon in den Wanderfüßen?
Das freut mich und ich wünsche euch viel Spaß bei dieser anderen Art, Deutschland zu erkunden!

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Der Podcast der Stadtbibliothek Kreuztal

Die Stadtbibliothek Kreuztal produziert mit „Bibliothek begeistert“ einen sehr sympathischen Podcast.

Autorin Melanie Lahmer beim Podcast der Stadtbibliothek Kreuztal

Alle zwei Wochen erscheint eine neue Folge, in der die Mitarbeiterinnen über Bücher und Medien sprechen.
Für Folge 12 mit dem Thema „Heimat“ war ich als Gast geladen.
Es geht darin u.a. um Kuckucksbrut, meine Herangehensweise an einen neuen Roman, über die Mörderischen Schwestern und Frauen in der Literaturbranche.

Hört mal rein – ich finde die Folge, aber auch den Podcast insgesamt, sehr gelungen!
Hier geht es direkt zu Folge 12: Klick

Viel Vergnügen beim Hören!

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„Det fikante Loch“ in Wilnsdorf

Die Hinrichtungsstätte „det fikante Loch“ in Wilnsdorf spielt eine besondere Rolle in „Kuckucksspiel“.

An dieser Stelle wurden früher „Malefikanten“ hingerichtet, nachdem sie zuvor am Richtertisch verurteilt wurden. Der Richtertisch befindet sich ein Stückchen weiter oben und bekommt noch einen eigenen Blogeintrag.

Das Buch am Inspirationsort

Aufmerksam geworden bin ich durch eine Freundin, die mir von einem alten Richtplatz „irgendwo im Wald bei Wilnsdorf“ erzählte. Also habe ich mich an meinen Rechner gesetzt, ein bisschen im Netz gesucht und wurde schnell fündig.
Und noch schneller war mir klar, dass dieser Ort unbedingt in einen Krimi gehört!

Det fikante Loch

Die Inschrift der Platte lautet:

DET FIKANTE LOCH
Nachdem an dem Femgericht
Freistuhl Hoheroth – 400 M von hier
das Urteil über den
Malefikanten – Missetaeter –
gefällt worden war, wurde es
wahrscheinlich hier am
Fikante Loch
mit Tod durch den Strang vollstreckt


Zu den Femegerichten in Westfalen habe ich ausführlich recherchiert und viel Spannendes erfahren.
Um mein Wissen mit der Hauptfigur Natascha zu teilen, habe ich einen Historiker ersonnen, Doktor Hünsborn. Natascha stattet ihm in seinem Büro an der Uni in Siegen einen Besuch ab.
Das Gespräch zwischen den beiden hat sich wie folgt zugetragen:

»Guten Tag, Herr Doktor Hünsborn. Krüger von der Kripo Siegen.«
Natascha hielt dem Historiker ihren Dienstausweis entgegen.
Sie hatte einen weißhaarigen, pfeiferauchenden Universitätsdozenten kurz vor der Pensionierung erwartet und war entsprechend überrascht, einem jungen Wissenschaftler gegenüberzustehen. Hünsborn war etwa Ende Dreißig, hatte einen roten Gabelbart und war ausgesprochen dick. Mit dem langen roten Haar, das ihm in Wellen auf die Schultern fiel, erinnerte er an Obelix. Fehlte nur noch die gestreifte Hose.
»Kommen Sie rein!«
Hünsborn keuchte und führte sie in ein schmales Büro voller Bücher. Verlegen räumte er einen Bücherstapel von einem schwarzen Plastikstuhl und bat sie, sich zu setzen.
»Sie haben Fragen zur historischen Rechtsprechung?«
Hünsborn ließ sich ächzend auf seinen Bürostuhl fallen, und Natascha fürchtete, das Gestänge würde das Gewicht nicht auffangen können. Aber der Stuhl hielt.
»Erzählen Sie mir bitte mehr über die Rechtsprechung im mittelalterlichen Siegerland!«
Nataschas Blick blieb an einem mehrbändigen Nachschlagewerk zur Grafschaft Nassau-Oranien hängen; von einem der Buchrücken schaute ihr der in Siegen allgegenwärtige Fürst Johann Moritz entgegen.
»Wer wurde denn an dem Richtertisch in Wilnsdorf verurteilt? In der Inschrift am Richtertisch geht es um ein Femegericht und um zwölf femewürdige Vergehen. Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
»Ja, wissen Sie«, begann Hünsborn und verschränkte die Arme vor seinem massigen Bauch. »Es ist vermutlich nicht so, wie Sie sich das vorstellen.« Wieder hüstelte er, und Natascha wartete, dass er endlich zur Sache kam. »Zwischen dem vierzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts waren die Femegerichte in Westfalen weit verbreitet. Auch heute noch ranken sich viele mystische Geschichten um diese Freigerichte oder Freistühle; man munkelt von heimlichen Sitzungen in dunklen Höhlen und anderen Abenteuerlichkeiten. Aber so war es in Wirklichkeit nicht. Die Femegerichte waren in erster Linie für Vergehen zuständig, die man damals ‚handhafte Tat’ nannte. Es wurde beispielsweise einberufen, wenn jemand in flagranti erwischt worden war. Diese Gerichte waren zusammengesetzt aus Freigrafen und mehreren Schöffen, ihr Hauptsitz war in Dortmund.«
Hünsborn lehnte sich in seinem wackligen Stuhl zurück und schien langsam warm zu werden.
»Könnten Sie das Ganze bitte etwas abkürzen? Ich fürchte, unser Zeitfenster reicht nicht für die Langversion.«
Sie versuchte, ihre Beine auszustrecken, stieß aber gegen einen der vielen Mappenstapel auf dem Boden. Also zog sie die Knie wieder an und verharrte in der unbequemen Sitzhaltung.

Die drei Stelen und die mit Moos überwachsenen Findlinge

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird Natascha noch mehr über mittelalterliche Strafmethoden erfahren, was auch für die Bewertung des Falles in Kuckucksspiel wichtig ist.
Aber ich will hier ja nicht alles verraten …
:)

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Kuckucksspiel – Leseprobe

Prolog

Ihre Augen waren geschlossen, die Gesichtszüge entspannt, der Mund leicht geöffnet. Die weißen Brüste waren ein wenig zu groß für seinen Geschmack, aber die Rundung ihres Bauches gefiel ihm. Der Gummibund ihres orangefarbenen Rockes war ein Stück nach unten gerutscht, die Knochen der Beckenschaufel zeichneten sich unter der sonnengebräunten Haut ab. Dort, wo sonst ihr Bikinihöschen saß, lugte unschuldiges Weiß hervor. Zarter blonder Flaum bedeckte ihre Haut.
Unzählige Male hatte er sie im Bikini im Garten liegen sehen, ihren Körper lange betrachtet. Hatte beobachtet, wie sie sich im Liegestuhl räkelte, die nackten Beine langsam mit Sonnenmilch einrieb und sie dabei elegant in die Höhe reckte.
Manchmal trank sie Wasser aus einer Flasche, legte dabei den Kopf in den Nacken und machte den zarten Hals ganz lang. Die roten, leicht gewellten Haare fielen ihr dabei bis zum Ansatz ihres runden Pos.
Wenn sie ein Waffeleis schleckte, fuhr sie mit der Zunge langsam und lasziv am Rand der Waffel entlang, steckte spielerisch die Zungenspitze ins Eis und leckte sich die vollen Lippen, als wollte sie ihn mit dieser kleinen Geste locken.
Doch damit hatte sie keinen Erfolg gehabt, so leicht war er nicht zu beeindrucken. Zu groß war ihre Schuld gewesen, zu selbstverliebt ihre Inszenierung, als dass sie bei ihm irgendeine andere Gefühlsregung hatte erzeugen können als Hass.
Hass auf all das, was ihm angetan worden war, was ihn verletzlich und schwach hatte werden lassen. Das Weib, die Mutter alles Bösen.
Doch das war einmal.
Nun lag sie vor ihm, bleich und weich und frei von Schuld. Ihre Brüste lockten nicht mehr, ihre Zunge hatte jede Geschmeidigkeit verloren und hing ihr blau und geschwollen aus dem halb geöffneten Mund. Der Hals war nicht mehr zart und lang, sondern eingedrückt.
Er blickte noch einmal auf sie herab, verspürte ein leichtes Gefühl des Bedauerns und ließ den Kofferraumdeckel geräuschvoll einrasten. Seine Hände wischte er mit einem Erfrischungstuch ab, das er in ihrer Handtasche gefunden hatte. Es sollte nach Zitrone riechen, doch ihm entströmte nur der Geruch des frühen Todes.

Kapitel 1

Sie rieb sich die Augen, doch es half nichts. Die Dunkelheit ließ sich nicht abstreifen, sie setzte sich an ihr fest wie klebriges Pech. Langsam tastete sie sich vorwärts, spürte das kalte Gestein unter ihren Händen und versuchte, die Wände wegzuschieben. Doch sie kam nicht von der Stelle. Aber vielleicht lief sie ja auch die ganze Zeit im Kreis. Wie sollte sie das so ganz ohne Licht erkennen?
Plötzlich spürte sie etwas in ihrem Nacken, fest und warm. Sie wollte sich umdrehen, doch es gelang ihr nicht. Irgendetwas hielt sie im Klammergriff, presste ihren Kopf gegen die kalte Felswand und verhinderte jede Bewegung. Nahm ihr den Atem.
Hilfe!, wollte sie schreien, doch aus ihrem Mund kam nur ein Röcheln. Ihr Atem ging schneller, rasselnd. Aber sie hatte das Gefühl, dass ihre Lungen nicht genügend Sauerstoff aufnehmen konnten, egal, wie schnell und verzweifelt sie auch atmete.
Sie würde doch jetzt nicht ersticken? Nein, bitte, sie wollte noch nicht sterben, nicht hier in dieser dunklen Höhle!

Natascha Krüger setzte sich ruckartig auf, ihr Herz raste. Sie sah sich hektisch um, entdeckte das Bücherregal an der einen Wand, das Fenster mit der hölzernen Lamellenjalousie auf der anderen, die Tür zum Flur … Mit zitternden Händen ertastete sie die Matratze unter sich, spürte den weichen Stoff der Bettdecke und ließ sich erleichtert zurück aufs Kopfkissen fallen. Sie war zu Hause.
Diese verdammten Albträume! Seit ein paar Wochen wurde sie immer wieder von dem gleichen Traum heimgesucht, und jedes Mal befand sie sich in dieser Höhle, aus der es kein Entrinnen gab.
Der Wecker zeigte fünf Uhr vierundfünfzig.
Langsam tappte sie in die Küche, füllte den Wasserkocher und gab zwei Löffel Kaffee in die French Press. Dann ging sie ins Bad, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Das tat gut. Ihr Spiegelbild sah gar nicht so blass aus, wie sie es erwartet hatte. Trotzdem stachen die Sommersprossen wie kleine dunkle Inseln aus einem Meer der Blässe hervor.
Nach dem Duschen fühlte Natascha sich zwar frischer, aber immer noch seltsam ausgelaugt. Das Müsli schmeckte heute irgendwie fad; das Radioprogramm im Hintergrund war belanglos wie immer.
Sie goss sich gerade etwas Milch in ihre zweite Tasse Kaffee, als es im Flur piepte. Das Handy meldete den Eingang einer Textnachricht. Wer mochte ihr morgens um kurz vor sieben eine WhatsApp-Nachricht schicken? Simon? Sie merkte, wie ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte, eilte in den Flur und öffnete das Nachrichtenmenü.
Heute Abend schon was vor? Hast du Lust auf ein Glas Wein? Mein Papa hat wieder ein paar Flaschen aus dem Ahrtal mitgebracht. Küsschen, Tine.
Natascha schmunzelte.
Okay. Um halb neun bei dir?, antwortete sie und wartete auf Tines Reaktion.
Sie starrte auf das Handy in ihrer Hand, und ehe sie richtig wusste, was sie tat, öffnete sie ihr Telefonbuch und wählte eine Nummer, die sie eigentlich auswendig kannte.
Am anderen Ende ertönte erst das Freizeichen, dann meldete sich eine elektronische Stimme vom Band. Der Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar. Natascha blickte auf die Uhr: Viertel vor sieben. Wahrscheinlich schlief Simon noch. Trotzdem wartete sie den Piepton ab und hinterließ eine Nachricht.
»Guten Morgen! Ich hoffe, du bist gestern heil in Berlin angekommen und hast die erste Nacht in dem Schulungszentrum gut geschlafen. Meine Nacht war ein bisschen kurz, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches. Meld dich mal!«
Sie seufzte. Simon fehlte ihr schon jetzt. Wie sollte sie da bloß die ganze Woche ohne ihn überstehen?

Kapitel 2

Hartmut Sänger zog das Baumwolltaschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Stirn ab. Es war unglaublich warm, und das schon um acht Uhr morgens. Der Tag würde unerträglich werden.
Aber wenn er den historischen Wanderführer wirklich veröffentlichen wollte, dann musste er eben bei Wind und Wetter das Mittelgebirge erklimmen.
Seine Heimat, das Siegerland, lag im Dreiländereck von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen, an den Ausläufern von Rothaargebirge und Westerwald. Eingebettet in das Tal der Sieg, lagen die größeren Orte; Siegen als Oberzentrum mit Universität, zwei Schlössern, Kino, Theater und Einkaufsmeilen, ein paar Kleinstädte in den Nebentälern. Und ringsherum vereinzelte Dörfer; manche bestanden nur aus wenigen Straßen und wurden hauptsächlich zum Schlafen und Wohnen genutzt, andere wiederum hatten eine Jahrhunderte zurückreichende Geschichte, bezeugt von historischen Ortskernen mit niedrigen, schmalen Fachwerkhäusern.
Jahrzehntelang war das Siegerland von den großen Verkehrswegen abgeschnitten gewesen, Fremde waren selten hergekommen, und so waren die Siegerländer größtenteils unter sich geblieben. Auch heute noch beäugten viele Neues und Fremdes misstrauisch.
Doch Hartmut Sänger liebte sowohl die dichten Wälder und die schroffen Höhen als auch das zurückhaltende Temperament der Siegerländer. Es gab meist auch gar keinen Grund, sich vorschnell neuen Moden hinzugeben; das Alte hatte sich schließlich bewährt und sollte auch bewahrt werden.
Traditionen spielten auch heute noch eine große Rolle in der Region, die Geschichte des Bergbaus und der metallverarbeitenden Industrie waren allgegenwärtig. Schon seit seiner Pensionierung arbeitete Hartmut Sänger an dem historischen Wanderführer, um Einheimischen und Gästen die Augen für das Schöne und Besondere der Gegend zu öffnen.
Deshalb wanderte er schon seit Monaten durch die Wälder, durchkämmte die Täler und fotografierte fast vergessene Plätze entlang der Wanderwege.
Nachdem er vierzehn Monate lang alte Stollen und Schächte gesucht, kartografiert und beschrieben hatte, widmete er sich nun einem neuen Kapitel: dem Leben im späten Mittelalter. Es gab im Siegerland nicht mehr viele Zeugnisse dieser dunklen Epoche, deshalb lag ihm dieses Thema besonders am Herzen.
Sein erstes Ziel an diesem frühen Montagmorgen war ein alter Richtertisch bei Wilnsdorf, einer Kleinstadt direkt an der Grenze zu Hessen. Sänger wusste nur, dass dieser Richtertisch etwas außerhalb der Stadt im Wald liegen und aus steinigen Überresten bestehen sollte. Es war natürlich Ehrensache, seine Arbeit mit einer ersten Vor-Ort-Recherche zu beginnen.
Er parkte den Wagen am Gymnasium und folgte dem Weg, der in den Wald führte. Die dicht gewachsenen Buchen schluckten das Sonnenlicht, es war hier angenehm kühl, und Sänger atmete tief durch. Irgendwo neben ihm zirpten Grillen, ab und an knackte es im Unterholz. Ein Eichelhäher flog zwischen den Bäumen umher und keckerte, als wollte er Sänger begrüßen.
Erst nach und nach drangen andere Geräusche an Hartmut Sängers Ohr: Die Autobahn im Hintergrund rauschte monoton, vom nahe gelegenen Gymnasium klang das Geschrei der Schüler herüber. Große Pause, dachte er nach einem Blick auf die Armbanduhr.
Nach wenigen Metern erblickte er rechter Hand auf einer kleinen Lichtung drei große hölzerne Säulen, um die niedrige moosbewachsene Findlinge einen Kreis bildeten. Vor den Stelen war ein Marmorschild in den Waldboden eingelassen, und Hartmut Sänger ging neugierig näher. Das musste »det fikante Loch« sein, eine alte Hinrichtungsstätte. Hier hatte wahrscheinlich der Galgen gestanden, an dem im Mittelalter die Verurteilten des Femegerichts gehenkt worden waren. Die Inschrift auf dem Schild am Boden bestätigte Sängers Vermutung. Vierhundert Meter von dieser Stelle entfernt waren am »Freistuhl Hoheroth« die Urteile über die Missetäter gefällt worden, die dann hier »mit Tod durch den Strang« vollstreckt worden waren.
Sänger fotografierte die Marmorplatte, die drei Stelen, die gesamte Anordnung. Seine Neugier war entfacht, und voller Vorfreude machte er sich auf den Weg zum vierhundert Meter entfernten Richtertisch.
Der Weg stieg steil an, aus dem Buchenwald war ein Mischwald geworden. Nach wenigen Metern nahm Sänger einen Abzweig in einen Fichtenwald und folgte den überwucherten Spurrinnen in der Mitte des Weges. Hinter einem baufälligen Jägerhochsitz öffnete sich eine grasbewachsene Lichtung. Die Sonne warf geheimnisvolle Schatten auf die Wiese, alte Laubbäume umrahmten den abgelegenen Ort.
Hartmut Sänger blieb stehen und zückte die Digitalkamera, um diese ersten Eindrücke festzuhalten und später eine möglichst große Auswahl an brauchbaren Fotos zu haben. Er probierte verschiedene Positionen aus, um die Lichtung von verschiedenen Blickwinkeln fotografieren und ihre ganze mystische Schönheit festhalten zu können, setzte einzelne Bäume oder Sträucher in den Fokus und wechselte in verschiedene Belichtungsprogramme.
Wenn schon der Weg zu der historischen Stätte so verwunschen war, wie mochte sich dann erst der Richtertisch selbst präsentieren?
Sänger hielt die Kamera einsatzbereit in der Hand und ging weiter. In Gedanken schrieb er schon die ersten Zeilen der Geschichte, mit der er den Ort verknüpfen wollte. Die Hexenprozesse, die bis ins siebzehnte Jahrhundert geführt worden waren, könnte er in Verbindung mit dem Richtertisch bringen. Oder eine Episode über einen Aufstand geschundener Bergleute schreiben. Ideen hatte er viele.
Vor ihm öffnete sich ein kleiner sonnenüberfluteter Platz, der von einer Eiche gekrönt wurde und wie die Hinrichtungsstätte mit den drei Stelen von moosbewachsenen Findlingen eingerahmt wurde, dreizehn an der Zahl.
Aber all das nahm Sänger nur am Rande wahr. Am ganzen Körper bebend, brachte Sänger die Digitalkamera in Position und versuchte, den niedrigen Steintisch unter der Eiche zu fokussieren. Doch es gelang ihm nicht, weil seine Hände so stark zitterten. Mehrmals verrutschte ihm das Bild, auch den Auslöser fand er nicht gleich und schaltete die Kamera einmal sogar versehentlich aus.
Das hier durfte nicht wahr sein! Hartmut Sänger wollte nicht glauben, was er sah. Und doch war es so real wie der Richtertisch selbst, die große Steinplatte in der Mitte des Platzes, der vom ausschweifenden Laub der Eiche überdacht war.
Dicke schwarze und grüne Schmeißfliegen surrten um Sänger herum; ihr Summen klang seltsam bedrohlich, ja grausam. Endlich gelang es ihm, Fotos zu machen. Er konnte den Finger gar nicht mehr vom Auslöser nehmen, er schien dort festgeklebt zu sein. Hartmut Sänger schoss Foto um Foto, eine ganze Bildergalerie der immer gleichen, starren Szenerie. Denn die Frau auf dem Richtertisch bewegte sich nicht. Würde sich nie mehr bewegen. Fliegen hatten sich in Scharen auf ihr niedergelassen; krabbelten auf der Suche nach Nahrung über ihre nackten Brustwarzen, über Mund und Augen.
Hartmut Sänger starrte auf die Leiche, ließ endlich die Kamera sinken und stützte sich am nächstbesten Baum ab, um sich auf den holprigen, mit altem Laub und frischem Moos bedeckten Untergrund zu übergeben.

Die umfangreich überarbeitete Veröffentlichung von „Kuckucksspiel“ erschien zusammen mit dem ersten Teil „Knochenfinder“!

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Knochenfinder – Leseprobe

Prolog

Als er aufwachte, hatte er das unbestimmte Gefühl, dass etwas Furchtbares mit ihm geschehen war.
Er schlug die Augen auf: Um ihn herum war nichts als Schwärze. Einen schrecklich langen Moment glaubte er, auf einmal blind geworden zu sein. Er warf den Kopf hin und her in der verzweifelten Hoffnung, irgendwo in der Düsternis einen winzigen Lichtstrahl zu erhaschen. Während er sich bewegte, spürte er, dass er an Händen und Füßen gefesselt war. Wenn er doch bloß etwas sehen könnte – nur irgendetwas. Doch alles blieb schwarz.
Die Finsternis schien ihn nach unten zu drücken, und er spürte nun deutlich, dass er auf felsigem Boden lag. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er konnte graue Schatten erkennen, kantige Umrisse. Er zitterte. Die verschwitzten Kleidungsstücke klebten an seinem Körper, gleichzeitig war es in seinem Gefängnis schrecklich kalt. Die Feuchtigkeit des Untergrundes drang durch den Stoff, vermischte sich mit dem eisigen Schweiß seiner Angst. Gegen die Kälte half auch die Decke nicht, die jemand über ihn gelegt hatte. Sie war weich und roch nach Weichspüler, wirkte jedoch in dieser großen Leere seltsam fehl am Platze.
So wie er.
Irgendwo hinter ihm tropfte es. Immer wieder, in zermürbender Gleichmäßigkeit. Einige Male versuchte er, die Tropfen zu zählen, als könne er auf diese Weise seine Situation kontrollieren.
Doch es gab keine Kontrolle.
Er versuchte, nach Hilfe zu rufen. Aber er konnte nur dumpfe, heisere Geräusche ausstoßen, die niemand hören würde: Der zusammengeklumpte Lappen in seinem Mund tat weh und drückte gegen das Zäpfchen; und immer wieder überkam ihn das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Doch er kämpfte dagegen an, denn er wusste, dass er sonst ersticken würde.
Verzweifelt versuchte er, sich abzulenken. Mit hoffnungsvollen und ermutigenden Gedanken, mit Erinnerungen an schöne Erlebnisse, mit heiteren Episoden aus dem Alltag.
Doch es half nichts.
Ständig hatte er Bilder von seinem eigenen qualvollen Tod vor seinem inneren Auge.

Kapitel 1

»Ich will den Cache allein finden!«
Der fünfjährige Jannik Walburg schaute zu seinem Vater Martin empor und bekräftigte: »Du darfst mir nicht helfen, Papa. Und Mama auch nicht! Ich bin schon groß genug! Ich kann den Schatz ganz alleine finden.«
Das GPS-Gerät in seiner kleinen Hand wirkte wie ein zu groß geratenes Funkgerät. Während Jannik durch den Wald marschierte, hielt er den Satellitenempfänger zumeist weit von sich gestreckt; es sah aus, als zöge das Gerät ihn gegen seinen Willen vorwärts. Doch nun blieb er stehen und wies mit seinem schmutzigen Zeigefinger auf den elektronischen Kompass, auf dessen Display der Richtungspfeil nach Nordosten zeigte. Jannik blickte abwechselnd nach vorn und auf den kleinen Bildschirm. Als er schließlich weiterging, geriet er durch eine Furche im ausgetrockneten Waldweg ins Stolpern und wäre beinahe gefallen, aber im letzten Moment fing er sich wieder. Irgendwo zwischen den Bäumen knackte es; vermutlich lief ein kleines Tier durchs Unterholz.
Martin ließ seinen Ältesten vorneweg laufen. Er schaute über die Schulter und sah zu, wie Katharina den Kinderwagen mit dem kleinen Elias über einen holprigen Wegabschnitt schob. Martin winkte seinem Jüngsten zu. Der Wagen schaukelte, und Elias jauchzte, als säße er in einem Karussell.
Katharina hingegen wirkte immer noch wie jemand, der in einen Essigtopf gefallen war. Heute war Martins erster Urlaubstag, und er hatte endlich einmal lange im Bett liegen können. Doch sie erwartete von ihm, dass er ihr an seinen freien Tagen schon frühmorgens bei der Hausarbeit half – und das, obwohl er doch in seinem Beruf so hart schuften musste! Aber das wollte sie nicht einsehen.
»Da geht‘s lang, Papa!«
Jannik war erneut stehen geblieben und wies mit dem Finger mitten in den dichten Wald hinein.
Martin beugte sich zu ihm herunter. »Nein, nicht direkt durch den Wald.« Er blickte auf das Display des GPS-Geräts und zeigte auf die rot markierte Strecke. »Zuerst folgen wir diesem Wanderweg, und nach ungefähr sechshundert Metern schauen wir nach, ob wir die versteckte Dose finden.«
»Ist das noch weit?«, erkundigte sich der Junge. »Ja, aber nur ein bisschen«, antwortete Martin. Es kostete ihn Mühe, nicht genervt zu klingen. Er wollte lieber in Ruhe wandern und seinen Gedanken nachhängen, statt wie in den letzten Minuten dauernd mit Jannik reden zu müssen. Hoffentlich wollten die Jungs später nicht auch so viel diskutieren wie ihre Mutter.
Jannik sah ihn misstrauisch an. »Etwa so weit wie Omas Haus? So weit will ich nicht laufen!«
Als Martin frustriert schwieg, drehte sich der Junge von ihm weg und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, wobei sein T-Shirt schmutzig wurde.
Katharina erreichte die beiden mit dem Kinderwagen und starrte verärgert auf die Flecken. »Jannik, geh weiter, sonst komme ich mit dem Wagen nicht vorbei.«
Der Junge sah trotzig zu seiner Mutter auf.
»Papa hat gesagt, dass wir noch weit laufen müssen. Ich will aber nicht mehr.«
Katharina beugte sich zu ihrem Sohn herunter. »Der Papa hat gesagt, es ist nur ein bisschen weit. Der Schatz befindet sich also ganz in der Nähe. Du wirst sehen.«
Jannik rieb sich gedankenverloren mit einer schmutzigen Hand über den Arm. Dann hellte sich sein Gesicht auf.
»Hoffentlich ist in dem Schatz ein Spiderman versteckt. Ich habe ‚Bob der Baumeister‘ zum Tauschen mitgenommen.«
Er holte aus einer Tasche seiner Shorts eine kleine Figur hervor und streckte sie seiner Mutter entgegen. »Bob der Baumeister« hatte schon viele Einsätze in Sandkästen und im Kinderzimmer hinter sich; dem Helm fehlte die gelbe Farbe, und die Schuhspitzen waren abgeschabt. Schon seit Wochen hoffte Jannik, in einem der Geocachingverstecke auf eine Spiderman-Figur zu stoßen. Weil der Sohn eines Arbeitskollegen von Martin einmal einen Batman gefunden hatte, glaubte Jannik, in vielen Geocaches seien Superhelden versteckt. Normalerweise handelte es sich bei den Tauschgegenständen um irgendwelchen Ramsch. Dinge von materiellem oder auch gar ideellem Wert suchte man in ihnen vergebens.
»Ja, wer weiß.« Katharina klang müde. Sie fuhr mit der Hand über Elias‘ Gesicht, um angetrocknete Kekskrümel von Wangen und Kinn abzuwischen.
Anschließend wanderte die Familie eine ganze Weile schweigend weiter und gelangte schließlich in die Nähe ihres Ziels.
Plötzlich rief Katharina: »Ich setze mich da hinten mit Elias auf die Bank, ich brauche dringend einen Kaffee!«
Sie zeigte auf einen kleinen Rastplatz am Wegesrand. Auf einer nur wenige Meter breiten Lichtung inmitten der dicht nebeneinander stehenden Fichten gab es eine Bank und einen Tisch, die man aus längsseits halbierten Baumstämmen gezimmert hatte. »Lass uns eine Pause machen«, schlug Katharina vor, ging zum Rastplatz und setzte sich hin. Heftiger als nötig warf sie den Rucksack auf den Tisch. Sie holte eine Thermoskanne heraus und öffnete sie. Der Kaffee dampfte kaum noch.
Martin schüttelte den Kopf, als sie ihm einen gefüllten Plastikbecher hinhielt. »Danke, aber ich gehe mit Jannik suchen. Wartest du hier mit Elias?«
Ihr Blick stach wie Eiszapfen in seine Magengrube.
Die Hände ballte sie zu Fäusten, als sie sich über den Kinderwagen beugte. »Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig, als das zu tun, was man mir sagt«, blaffte sie und öffnete Elias‘ Gurt. »Ist schließlich mein Job, das hätte ich fast vergessen. Und während der gnädige Herr am Wochenende ausschläft, rackere ich mich wie jeden Tag ab. Als Hausfrau hat man ja leider kein Wochenende. Ich bin schon seit halb sieben auf den Beinen und halte alles im Haus am Laufen. Aber jetzt brauch ich einfach eine Pause.« Der zweijährige Elias kletterte aus dem Wagen und fiel mit einem kurzen Schreckensschrei auf den Waldboden. Flink rappelte er sich auf; Dreck und Nadeln klebten rings um seinen Mund. Mit zusammengekniffenen Lippen wischte Katharina erneut sein Gesicht sauber.
Martin wandte ihr den Rücken zu. Bekäme er noch mehr Vorwürfe zu hören, würde er wutentbrannt in den Wald laufen. Und zwar ohne GPS-Gerät.
Plötzlich bemerkte er, dass Jannik zwischen den Bäumen verschwunden war. Angestrengt hielt er nach seinem Sohn Ausschau. Dann sah er, wie das rote T-Shirt des Jungen neben einer umgekippten Fichte aufblitzte. Martin eilte zu seinem Sohn, ohne sich noch einmal nach Katharina umzudrehen. Jannik stocherte mit einem Stock, der ihm bis zum Scheitel reichte, im Erdreich zwischen einigen Nadelbäumen herum. Dann hob er Rindenstücke vom Boden auf, drehte Steine um und zog am Geäst dünner Büsche. »Papa, wir sind bestimmt falsch. Hier ist nichts.« Mit enttäuschtem Gesichtsausdruck sah er zu seinem Vater auf. »Das wurde bestimmt geklaut.«
Martin verkniff sich ein Grinsen. Die Dose war von den letzten Findern zwar gut versteckt worden, aber er hatte sofort den unnatürlich aussehenden Haufen kleiner Äste und Zweige entdeckt: ein typisches Anzeichen für ein Geocachingversteck. »Der Schatz ist sicher noch da, du musst dich nur genauer umschauen.«
Jannik stützte sich auf den Stock. »Hast du was gesehen?«
Martin blickte zu Boden, als hätte er die Frage nicht gehört. Es machte ihm große Freude, Jannik beim Suchen und Finden zu beobachten. Mitunter brauchte der Junge mehrere Minuten, um selbst die Verstecke zu entdecken, die geradezu ins Auge sprangen. Und je länger er suchte, desto größer war seine Freude, wenn er den Schatz gefunden hatte.
»Du darfst mir aber nichts verraten, Papa. Ich will den Cache allein finden!«
Jannik drehte sich im Kreis, bückte sich und grub mit seinen kleinen Händen in den Nadelhaufen auf dem Waldboden. Ein Eichelhäher saß in einigen Metern Entfernung auf einem Ast, als wollte er dem Jungen bei der Suche zuschauen.
Plötzlich hielt Jannik abrupt inne. »Ich hab den Schatz, Papa; hier ist er versteckt!«
Der Eichelhäher keckerte und flog davon, als der Junge aufgeregt den Reisighaufen beiseite schaufelte. Braune Blätter stoben umher, und Staub lag in der Luft.
Inzwischen war ihnen Katharina mit Elias gefolgt. Sie stellte sich neben Martin, und er spürte plötzlich ihre Wange an seiner Schulter.
»Ist er nicht süß?«, hauchte sie ihm ins Ohr. Martin war völlig irritiert und drückte unsicher ihren Oberarm. Elias setzte sich zu ihren Füßen und stocherte nun ebenfalls im Dreck.
Jannik hantierte mit seinem Fundstück, einer Frischhaltedose, und Martin wartete auf das charakteristische Geräusch, wenn beim Öffnen die Luft entwich. Aber das Geräusch blieb aus. Wahrscheinlich war die Dose bereits kaputt, und wenn sie Pech hätten, wäre der Inhalt feucht und verschmutzt.
»Mama, Papa, was ist das?«, rief der Junge; seine Stimme klang beunruhigt.
Katharinas Oberkörper versteifte sich. Sie löste sich von ihrem Mann und ging mit schnellen Schritten zu Jannik. Martin folgte ihr rasch. »Zeig mal her«, sagte er und nahm seinem Sohn die Dose aus der Hand.
Erwartungsvoll blickte er in das Oval aus transparentem Kunststoff. Reflexartig zuckte er zurück, als beißender Geruch in seine Nase stieg. Modrig, organisch. Dann sah er die Insekten, dazwischen ein Stück Fleisch. Daumendick. Zwischen hellroten Gewebefetzen, braunen Blutkrusten und angeschwärzten Geweberändern war ein weißer Knochen zu erkennen.
Katharina schrie auf, als auch sie den Inhalt der Dose sah.
Martin blickte starr in den stinkenden Behälter.
Ein Käfer spreizte die irisierenden Flügel. Er krabbelte über den Dosenrand, fiel auf den Waldboden und verschwand im Unterholz.

Kapitel 2

»Ihrem Versetzungsantrag kann leider nicht entsprochen werden. Pah!«
Natascha Krüger warf den Brief auf den Schreibtisch und sprang empört auf. Ihr Bürostuhl rollte polternd gegen das Metallschränkchen hinter ihr. Sie drehte sich um und gab ihm noch einen Tritt.
»Ich muss erst meinen Erstverwendungsdienst beenden, bevor ich mich weiterbewerben kann!«, rief sie mit scharfer Stimme. »Scheiß Bürokraten!«
Ihr Kollege Jörg Lorenz lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der ein asthmatisches Geräusch von sich gab. »In diesen sauren Apfel müssen alle Berufsanfänger beißen. Das wusstest du doch vorher; du kennst schließlich die Vorschriften.«
»Aber die hätten doch für mich eine Ausnahme machen können! Diese Möglichkeit gibt es nämlich!« Natascha funkelte ihren Bürokollegen an. Wieso musste er alles besser wissen?
Lorenz griff zu einer Dienstmütze, die schon seit Ewigkeiten hinter ihm auf einem halbhohen Regal lag, und setzte sie auf. Dabei fiel eine der beiden Schildkröten aus Plüsch um, die dort standen.
»Melde mich gehorsamst zum Dienst, Kommissarin Krüger!«
Manchmal sah er selbst aus wie eine Schildkröte, fand sie. »Das ist nicht witzig!«
Enttäuscht zog sie ihren Schreibtischstuhl an seinen Platz und setzte sich wieder. Sie stützte ihr Kinn in die Hände und blickte Lorenz trotzig an. Er grinste aufreizend. Dass sie ihrem Kollegen direkt gegenübersaß, fand sie nicht immer gut. »Was ist, warum guckst du so?«, wollte sie wissen.
»Du erinnerst mich an meine Schwester.«
»Ach, und warum?«
»Sie hat sich immer ein Pferd gewünscht und unsere Eltern damit ganz schön genervt. Zu ihrem zwölften Geburtstag hat sie dann endlich ein Tier geschenkt bekommen. Doch es war kein Pferd, sondern ein Hamster. Da hat sie ungefähr so dreingeschaut wie du jetzt gerade.« Lorenz grinste immer noch.
»Wie witzig. Du machst dich über die Wünsche und Träume anderer Leute lustig, als ob du selbst keine hättest. Ich habe jedenfalls keine Lust, bis zur Pension immer den gleichen Dienst in derselben Stadt zu schieben – auch wenn es bei der Polizei noch vergleichsweise spannend ist. Und wenn ich ein Ziel habe, dann unternehme ich auch was, um es zu erreichen.«
Lorenz zog die Augenbrauen nach oben und betrachtete sie wie ein alter Lehrer seine ungestüme Schülerin. Dann drehte er sich um, nahm die Mütze ab und legte sie zurück auf das Regal. Auch die umgefallene Schildkröte stellte er wieder auf. Manchmal benahm er sich ihr gegenüber wie ein Vater, dachte Natascha. Obwohl er erst achtunddreißig war und damit nur elf Jahre älter als sie.
Trägheit breitete sich in ihr aus: der Kater nach dem Adrenalinkick. Sie verschränkte die Arme und legte sie auf den Schreibtisch, sodass sie mit ihnen das Schreiben des Ministeriums verdeckte. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wieso hatte man sie nach dem Studium bloß hierher geschickt? Nach Siegen! Das war der nordrhein-westfälische Wurmfortsatz, kein richtiges Westfalen und erst recht kein Rheinland. Die meisten ihrer ehemaligen Kommilitonen hatten als Kommissare im Rheinland bleiben oder zur Bereitschaftspolizei gehen dürfen. Warum man ausgerechnet sie dem Kriminalkommissariat in dieser abgelegenen Gegend mit den wortkargen Bewohnern zugeteilt hatte, war ihr unerklärlich. Siegen war nur durch die Zusammenlegung mehrerer Orte zu einer Großstadt geworden: Das besondere Flair und die Lebendigkeit gewachsener Städte fehlten hier völlig; die Infrastruktur und das kulturelle Angebot waren immer noch kleinstädtisch, obwohl die kommunale Neugliederung schon mehr als vier Jahrzehnte zurücklag. Und die Polizeidienststelle befand sich nicht einmal im Zentrum der Stadt, sondern in Weidenau, einem der Stadtteile. Nun saß sie hier, zwischen Rothaargebirge und Westerwald, und fühlte sich von den dicht bewaldeten Bergen, die keinerlei Fernblick boten, förmlich eingekreist. Einzig das nahe gelegene Autobahnkreuz bei Wenden an der Grenze zum Sauerland stellte eine Verbindung zur alten Heimat her, da man dort auf die A4 nach Köln auffahren konnte. Natascha konnte es nur zu gut verstehen, dass viele Studierende von auswärts lästerten, die Autobahn nach Köln sei das Beste an Siegen. Selbst die Sieg schien langsamer als andere Flüsse zu fließen.
Hätte sie nicht Tine kennengelernt und in ihr eine gute Freundin gefunden, wäre sie längst an ihrem Schicksal verzweifelt. Ihre erste Begegnung hatten sie gleich zu Beginn ihrer Zeit in Siegen, und zwar kurz nach Mitternacht auf der am stärksten befahrenen Kreuzung der Stadt. Natascha war mit einem Kollegen auf Streife gewesen, als sie zu einem Einsatz gerufen wurden. Sie entdeckten eine junge Frau, die sich mitten auf die Kreuzung gestellt hatte und zwei Pylonen in die Höhe hielt. Ihr Freund stand am Straßenrand und fuchtelte mit seinen tätowierten Armen in der Luft herum. Beide waren natürlich sturzbetrunken. Recht bald brachten die Polizisten in Erfahrung, wie es zu dieser Situation gekommen war: Der Mann hatte seiner Freundin auf dem Heimweg gestanden, dass er fremdgegangen sei; daraufhin hatte sie in einer Kurzschlussreaktion zu zwei Pylonen gegriffen, die von Straßenarbeitern auf dem Gehweg vergessen worden waren, und damit auf ihn eingeschlagen. Er konnte sich nur dadurch retten, dass er über die Straße rannte. Sie lief hinter ihm her, doch als eine der Ampeln auf Grün schaltete, sah sich die junge Frau plötzlich von fahrenden Autos umzingelt. Mit einer Sturheit, wie sie nur Betrunkenen eigen ist, blieb sie auf der Kreuzung stehen. Nata scha und der Kollege von der Schutzpolizei legten ihr schließlich Handschellen an und brachten sie so zur Vernunft. Drei Wochen später begegneten sich die beiden jungen Frauen zum zweiten Mal, diesmal in einem Bogenschützenverein. Tine zeigte sich zunächst noch zickiger. Doch etliche Tage später gestand sie Natascha, wie sehr sie sich bei jener zweiten Begegnung geschämt hatte. Seitdem erwähnte keine von ihnen mehr jenes nächtliche Erlebnis, und sie hatten bereits so oft von ihrer »ersten« Begegnung beim Bogenschießen erzählt, dass sie schon fast selbst daran glaubten.
»Natascha? Was ist mit dir?« Lorenz holte sie zurück aus ihren Tagträumen.
Sie setzte sich auf, fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen dunklen Haare und murmelte: »Es hat ja doch keinen Zweck. Dann bleibe ich eben noch zwei Jahre hier und arrangiere mich mit den Umständen.«
»Na bitte. Geht doch.« Er lächelte. Um seine Augen bildeten sich feine Fältchen, die Mundwinkel zuckten, und die Stirn glättete sich. Plötzlich überkam Natascha Wehmut, als sie daran dachte, dass sie ihren sympathischen Kollegen verlassen wollte. Am liebsten hätte sie ihn für dieses Lächeln umarmt. »Magst du gleich mit mir in die Kantine kommen? Mein Magen grummelt wie ein alter Bär.« Lorenz hielt sich den Bauch und sah sie auffordernd an.
Doch Natascha schüttelte den Kopf. »Danke, heute nicht. Ich hab mir einen Salat mitgebracht.«
»Du machst doch nicht etwa eine Diät? Du bist schon dünn genug!« Er formte mit beiden Händen einen kleinen Kreis, der wohl ihre Taille darstellen sollte.
Natascha lachte und rieb sich mit der flachen Hand über den Bauch. »Quatsch. Aber bei dieser Hitze habe ich keine Lust auf warmes Essen. Da ist so ein frischer, knackiger Salat doch was Feines, oder?«
Lorenz mimte den Zerknirschten. »Du hast recht. Anstelle des fetten Kantinenessens sollte ich meinem Magen lieber was Gesundes gönnen. Und weißt du was?« Er stand auf und ging auf die Tür zu. »Morgen fange ich damit an. Ganz bestimmt!«
Lachend verließ er den Raum, und Natascha rief ihm noch »Guten Appetit!« hinterher.

Die überarbeitete Neuauflage erschien zusammen mit „Kuckucksspiel“, dem zweiten Fall von Natascha Krüger und ihren Kollegen von der Siegener Polizei!

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Es geht weiter!

Aus unterschiedlichen Gründen habe ich eine sehr lange Social Media-Pause eingelegt, wovon auch mein Blog betroffen war.

Doch das ist erstmal vorbei, und pünktlich zum Jahresbeginn (oder sollte ich sagen: Frühlingsbeginn?) kommen zwei Bücher von mir auf den Markt:

Knochenfinder und Kuckucksspiel.

Taschenbücher Knochenfinder und Kuckucksspiel
Knochenfinder und Kuckucksspiel im neuen Kleid

Beide Krimis wurden nicht nur äußerlich, sondern vor allem auch innerlich generalüberholt und werden sich ab 01.03.2022 munter unter das Büchervolk mischen.

Wenn Ihr mehr über die Hintergründe der Bücher und ihre Wiederauflagen wissen wollt, bleibt einfach hier am Ball oder folgt mir auf Facebook oder Instagram.

Ich hoffe, wir lesen uns!

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Lange Nacht der Bibliotheken in Siegen

Endlich wieder lesen!
Die Stadtbibliothek Siegen beteiligt sich an der „langen Nacht der Bibliotheken“ und veranstaltet eine Online-Lesung – kostenfrei für euch alle!
Ihr müsst euch lediglich die Webex-App für diesen Abend herunterladen und es euch zu Hause gemütlich machen. Dann könnt ihr von 19-22 Uhr kriminelle Lesungen genießen: außer mir lesen noch Anette Schäfer und Ralf Strackbein. Die Veranstaltung wird von Stadtrat Arne Fries eröffnet und ihr habt nach (bwz. während) jeder Lesung die Möglichkeit, Fragen zu stellen.

Den Link zur Veranstaltung und mehr Infos findet ihr hier:
Die lange Nacht der Bibliotheken in Siegen

Ich freue mich auf euch!

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Der Krimi-Newsletter im Februar

Bald erscheint der nächste Newsletter!

In der Februar-Ausgabe erfahrt ihr, warum ich „Kuckucksbrut“ vor der Wieder-Veröffentlichung so umfassend überarbeite, warum ihr euch beeilen solltet, wenn ihr „Tod unterm Krönchen“ zu Ostern verschenken wollt und wer die Mörderischen Schwestern sind.

Außerdem verrate ich euch schon mal vorab, wann und wo ihr die nächste Lesung von mir erleben könnt.
Neugierig geworden?

Der Siegerland-Krimis-Newsletter
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„Tod unterm Krönchen“ – der neue Siegerland-Krimi!

Stell dir vor, du bist die Hauptfigur in einem Kriminalroman.
Als Privatdetektiv:in ermittelst du in einem Mordfall, dein Nachbar ist ein neugieriger Reporter, deine Freundinnen sind Zeuginnen, deine Eltern sind Polizisten und für das Opfer fällt dir bestimmt auch noch jemand ein.

Der personalisierte Siegerland-Krimi Tod unterm Krönchen
Der neue Siegerland-Krimi „Tod unterm Krönchen“

Ein personalisierter Krimi

Klingt witzig?
Ist es auch!
In meinem neuen Krimi bestimmst du allein, wer welche Rolle übernimmt.
Jedes Buch wird individuell geschrieben und gedruckt, auf Wunsch auch gerne signiert.
„Tod unterm Krönchen“ ist also ein wunderbares Geschenk zum Geburtstag, zum Jahrestag, zum Firmenjubiläum, Hochzeit oder einfach so.
Für dich oder für andere.

Wie funktioniert der personalisierte Krimi?

Du meldest dich bei mir, ich schicke dir einen Fragebogen zu den Figuren, und nach Erhalt beginne ich mit der Arbeit.
Im Normalfall dauert der ganze Prozess bis zu vier Wochen, du solltest also nicht gerade unter Termindruck stehen.
Dafür bekommst du aber auch ein ganz besonderes und vor allem wirklich individuelles Geschenk!

Ein Taschenbuch kostet 30 Euro, ein Hardcover 35 Euro, jeweils zuzüglich Porto. Zusätzliche E-Books im Wunschformat kosten je 8 Euro.
Ich freue mich auf deine Nachricht!

Das Covermotiv mit dem Krönchen in Blau stammt übrigens von Ricardo Orlando vom DiWerk in Siegen.
Ricardo OrlandoDiWerk – Foto-/Filmstudio

(Aktuell nicht lieferbar)

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„Märchenspur“ – Familien-Rundwanderweg in Bad Berleburg

Der Rundwanderweg „Märchenspur“ wurde im Oktober 2020 eröffnet und ist damit das sprichwörtliche Nesthäkchen unter den Wanderwegen rund um den Rothaarsteig.

Offiziell ist er 5,6 km lang und ganz auf Kinder, Familien und Märchenfreunde ausgelegt. Auf der Seite der Stadt Berleburg ist er mit zwei Stunden Dauer angegeben, ich würde aber deutlich mehr veranschlagen. Wir waren drei Stunden unterwegs, sind aber nicht stur gewandert, sondern haben viel links und rechts geschaut, Pausen gemacht – und sind zwei Mal in die Irre gelaufen.

Die Wegführung ist an manchen Stellen verwirrend (z.B. beim Spielplatz oder der Rotkäppchen-Station), letztlich macht es aber nichts, wenn man den Weg gelegentlich verlässt. Das Bad Berleburger Schloss als Start- und Endpunkt findet man so oder so wieder.

Für jüngere oder nicht so waldbegeisterte Kinder könnten vielleicht noch zwei oder drei zusätzliche Stationen die Motivation erhöhen. Zwei der sechs Stationen liegen im Schlosspark und damit nah beieinander, die übrigen vier verteilen sich dann auf dem restlichen Rundweg.

Das war es aber auch schon mit meiner Kritik.

Wichtig ist auch der Hinweis, dass die Märchenspur nicht kinderwagentauglich ist, auch nicht für robuste Sportwagen. Eine Tragehilfe ist hier für die ganz Kleinen sehr nützlich.

Eine Prinzessin auf Schloss Berleburg

Die Idee des Familien-Wanderweges ist sehr schön und wurde gut umgesetzt, denn Bad Berleburg ist wie geschaffen für einen Märchen-Wanderweg.

Die Märchenspur beginnt an Schloss Berleburg, das Viele aus der Region mindestens von der Weihnachtszeitreise kennen, dem Weihnachtsmarkt mit historischem Flair rund um Schloss und Schlosspark.

Das Bad Berleburger Schloss ist schon seit mehr als 600 Jahren von der Fürstenfamilie Sayn-Wittgenstein-Berleburg bewohnt, und mit ganz viel Glück können die Kinder dabei sogar einer waschechten Prinzessin begegnen (Nathalie Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg ist eine erfolgreiche Dressurreiterin und züchtet kostbare Reitpferde auf ihrem Gestüt in Bad Berleburg).

Von dort geht es an Ententeichen vorbei zur Gänsewiese, wo man bei schönem Ausblick eine erste Rast einlegen kann. Außerdem steht dort eine Stempelstation, denn die Kinder können sich bei der Tourist-Info in Bad Berleburg einen Stempelpass holen und ihn am Ende der Wanderung gegen eine kleine Überraschung eintauschen.

Wisente, Enten und Gänse im Wald

Anschließend führt der Weg in den Buchen- bzw. Mischwald, das dichte Laub auf dem Boden macht nicht nur den Kindern Spaß!
Die Wälder rund um Bad Berleburg sind Teil des berühmten Wisent-Projekts, das auf die Initiative der Fürstenfamilie Sayn-Wittgenstein-Berleburg zurückgeht.

Die Märchenspur hat insgesamt sechs Stationen, an denen ein Märchen in Kurzform erzählt wird und die immer einen Bezug zu ihrem Standort haben. Und hier können die Kinder auch ihr Stempelheft füllen.

An einigen Stellen kreuzt man den Wald-Skulpturenweg und Zubringerwege zum Rothaarsteig sowie weitere bekannte (Rund-)Wanderwege.

Fazit

Die Märchenspur ist ein schöner Familien-Rundwanderweg um Bad Berleburg im Rothaargebirge. An sechs Stationen werden Märchen nacherzählt und die Kinder können dort Stempel sammeln und sich am Ende des Weges eine kleine Überraschung abholen.

Für die 5,6 km sollte man allerdings reichlich Zeit einplanen, weil es im Wald so viel zu schauen gibt und ein schöner Waldspielplatz zum längeren Verweilen einlädt.

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