
Donnerstag, 27. Juni
Dichte, schwere Wolken hängen über dem Tegernsee, als ich mittags in Gmund aus dem Zug steige.
Das Wasser des Sees wirkt grau, die Berge heben sich dunkel vor dem Stahlblau des Himmels ab. Meine Wetter-App warnte mich zwar vor Regen und Gewitter, aber ich bin die ganze Zugfahrt über optimistisch geblieben.
Nun ja.
Ich vergewissere mich, dass mein Regenzeug griffbereit ist und schultere meinen Rucksack.
12 Kilogramm, gequetscht in meinen dunkelblauen 38 Liter-Rucksack, der mich schon auf dem Jakobsweg durch Portugal und Spanien begleitete.
Zu viel Gewicht.
Dabei habe ich mein Gepäck schon arg reduziert und nehme nur drei Tagessets mit – eins am Körper, eins zum Wechseln und eins für den Fall, dass das Wechselset durch Regen oder von der allabendlichen Handwäsche im Waschbecken noch nicht trocken ist.
Und natürlich warme Sachen: eine Outdoor-Steppjacke mit kleinem Packmaß, dünne Handschuhe, ein multifunktionaler Schlauchschal. Eine dünne Sportjacke, Regenjacke, Merinoshirts. Der Zwiebellook ist der einzig sinnvolle Look auf so einer Tour, denn das Wetter in den Bergen ist unberechenbar und auch Ende Juni kann in hohen Lagen noch Schnee liegen.
Der Bahnhof in Gmund, am nördlichen Ende des Tegernsees gelegen, ist schick und sauber. So wie eigentlich alles hier. Man ist auf Touristen eingestellt, sie sollen sich wohlfühlen und gerne wiederkommen.
Eine kleine Gruppe Erwachsener mit leichten Rucksäcken versammelt sich um einen Wanderführer, ich kann die Aufregung spüren.
Wir setzen uns fast gleichzeitig in Bewegung und ich gehe zügig los, um noch vor der Gruppe am See zu sein. Niemand soll denken, ich würde mich ungefragt anschließen wollen.

Jetzt beginnt sie also, meine Alpenüberquerung.
Seit Jahren träume ich davon, und nun ist es so weit. Ich stehe hier am Tegernsee und blicke in Richtung Süden, zu den Bergen, die für die nächsten Tage meinen Weg markieren werden. Hier sind sie noch niedrig, baumbestanden und erinnern mich eher an das Rothaargebirge als an die Alpen.
Was wird mich unterwegs erwarten?
Werde ich es tatsächlich schaffen, von hier aus durch Österreich zu wandern und in neun Tagen in Südtirol anzukommen?
Ja, ich kann das schaffen.
Ich habe den Jakobsweg geschafft, ich werde auch die Alpenüberquerung schaffen!
Trotzdem spüre ich leichte Zweifel.
Das Panorama vom Tegernsee
Die Wolken werden dichter und dunkler, spiegeln sich im See.
Auch hier ist alles sauber und gepflegt, die Strandpromenade lädt mit Bänken zum Rasten ein, eine Gruppe Jugendlicher macht sich zum Baden im See bereit. Ich denke an die Gewitterwarnung, sage aber nichts.
Stattdessen mache ich Fotos und melde mich bei meiner Familie.
Die Gruppe mit dem Wanderführer überholt mich und ich schlendere langsam weiter, um den Abstand zu vergrößern.
Nach einem kurzen Stück am See schickt mich meine Wanderapp über die Straße und ich bin kurz irritiert, weil ich die Schilder für den Weg nicht sofort finde. Aber eigentlich brauche ich die Hinweise gar nicht, mein Ziel ist ohnehin klar: Der Panoramaweg, der leicht erhöht am See entlangführt und schöne Aussichten verspricht.
Wohnen hier am Tegernsee nicht auch Manuel Neuer und andere Promis? Vielleicht läuft mir ja jemand Berühmtes über den Weg!
Doch vorerst vermutlich nicht, denn es beginnt zu regnen. Ich eile zu einem Holzstoß, um meinen Rucksack abzusetzen und die Regensachen hervorzuholen. Für mich die Regenjacke, für den Rucksack die orange Regenhülle.
Das fängt ja gut an!
Nach der nächsten Kurve entdecke ich die Wandergruppe, die, ebenfalls in bunte Regenkleidung gehüllt, unter einer Baumgruppe wartet und vom Wanderführer Instruktionen erhält.
Der Weg führt nun parallel zum See, mal durch Wald, mal zwischen Wiesen hindurch, und ab und zu kann ich einen Blick auf den See erhaschen. Es wird unangenehm warm unter der Regenjacke, aber mittlerweile tröpfelt es nur noch und ich ziehe die Jacke wieder aus.
An einem Aussichtsplatz mit Bänken lasse ich mich nieder, stopfe die Regenjacke zurück in den Rucksack und hole Brotdose und Fernglas hervor.
Die Wolken auf der gegenüberliegenden Seite lassen nichts Gutes erahnen, trotzdem ist auf dem See einiges los. Ich höre rhythmisches Trommeln und im Ausschnitt meines Fernglases entdecke ich drei Drachenboote.

Die Wandergruppe erreicht den Aussichtspunkt und lässt sich nieder, wir kommen ins Gespräch. Sie sind, wie vermutet, ebenfalls Alpenüberquerer und der Wanderführer hebt die Brauen, als ich erkläre, an welchen Stellen ich den regulären Weg verlassen werde.
Kurz bin ich irritiert. Habe ich mich vielleicht übernommen, meine Fähigkeiten über- und den Weg unterschätzt?
Nein, bestimmt nicht.
Ich habe mich so intensiv mit der Wanderung beschäftigt, wochenlang, dass ich mir sicher bin, dass der Weg zu mir und meinen Möglichkeiten passt.
Kurz darauf packe ich meine Sachen wieder ein und gehe weiter, gespannt darauf, wie oft wir uns noch begegnen werden.
Bratwurst und Bier am Tegernsee und die Suche nach dem Stempel
Nach sieben Kilometern erreiche ich den Ort Tegernsee und steige hinab.
Mein Knie spielt noch gut mit, trotzdem trage ich eine Bandage unter meiner Sportleggings und nutze meine Wanderstöcke.
Zuerst suche ich einen Supermarkt, um mir Obst, Gemüse und Brötchen zu kaufen. Die morgige Etappe wird eine der anstrengendsten auf der ganzen Tour und es gibt unterwegs keine Einkehrmöglichkeit. Da habe ich lieber zu viel als zu wenig Essen dabei.
Außerdem will ich mir hier in Tegernsee den ersten Stempel für meinen Stempelpass holen!
Aber das hat noch Zeit.
Tegernsee hat ein eigenes Brauhaus direkt am See und ich finde, dass es sich hier angemessen in das Abenteuer Alpenüberquerung starten lässt. Mittlerweile haben sich die Wolken verzogen und die Sonne scheint, sodass ich mir einen Platz am Rand des Biergartens suche, von dem aus ich den Anlegesteg im Blick habe. Die Wandergruppe sitzt ebenfalls im Biergarten und ich nicke ihnen im Vorbeigehen zu, werde aber nicht bemerkt.
Bei alkoholfreiem Radler und Würstchen realisiere ich so langsam, wo ich bin und was da noch vor mir liegt.
Hammer! Was hab ich mir nur dabei gedacht?

Mittlerweile ist es halb fünf und ich habe noch einiges an Weg vor mir – neun Kilometer, um genau zu sein. Und den Stempel brauche ich auch noch!
Ich zücke mein Handy und suche nach Busverbindungen nach Kreuth.
Vielleicht sollte ich es am ersten Tag nicht direkt übertreiben und langsam einsteigen, zumal es ja morgen in die Blauberge geht und mir 900 Höhenmeter und 13 Kilometer Strecke bevorstehen. Und da kann ich nichts abkürzen, da muss ich einfach irgendwie hoch. Egal, wie es meinem Knie geht.
Der letzte Bus von Tegernsee nach Kreuth fährt um 18.41 Uhr, ich habe also noch Zeit, mir den Stempel zu holen und vielleicht noch ein paar Minuten am See zu sitzen. Das klingt nach einem perfekten Plan!
An der Tourist-Info Tegernsee stehe ich allerdings vor verschlossener Türe – verschlossen erst vor wenigen Minuten, um 17 Uhr. Leichte Panik überkommt mich. Ich möchte doch meinen ersten Stempel haben!
Ein Schild verweist mich auf einen öffentlichen Stempel an der Rückseite des Hauses. Hurra!
Doch die Freude währt nur kurz, denn der Stempel befindet sich hinter einem Bauzaun. Ich schaue mich um. Kann ich vielleicht irgendwo durch den Bauzaun schlüpfen? Ein Element etwas beiseiteschieben, um an den Stempel zu gelangen?
Ich bin unsicher. Soll ich? Soll ich nicht?
Mir kommt eine andere Idee – vielleicht gibt es am Bahnhof, wo auch mein Bus abfährt, einen Stempel?
Für den Fall, dass auch das nicht klappt und ich irgendwann mal irgendjemandem beweisen muss, dass ich auch wirklich den gesamten Weg gegangen bin, mache ich Fotos von der Stempelstelle hinter dem Bauzaun.
Man weiß ja nie!

(mit Finger im Bild)
Ankunft in Kreuth
Am Bahnhof habe ich tatsächlich Glück, das Kassenhäuschen ist besetzt und ich bekomme meinen Stempel.
Und der Bus bringt mich ganz bequem nach Kreuth zu meiner Unterkunft im Handlhof. Unterwegs bin ich froh, mich für den Bus entschieden zu haben, denn das Knie muckert nun doch und der Weg hierher erscheint mir auch nicht so unfassbar toll, dass er unbedingt gegangen werden muss.
Nach der Pause am See hätte ich mich ohnehin nur schwer motivieren können.
Mein Zimmer im Handlhof hat einen Balkon, sodass ich nach der Dusche erstmal meine Klamotten wasche und draußen aufhänge.
Auf dem Bett liegend kann ich direkt auf die Blauberge schauen, mein Ziel für morgen. Da will ich wirklich hoch?
Ich bin skeptisch und stöbere ein wenig im Internet. Ja, diese Etappe ist anstrengend, aber letztlich für die meisten Wanderer machbar.
Nur, dass ich ja gar nicht den Normalweg zur Blaubergalm nehme, sondern mich für den weiteren und anstrengenderen Weg zur Gufferthütte entschieden habe!
Mit gemischten Gefühlen schlafe ich ein.

Gehzeit inkl. Pausen: 2:45 Std.
Strecke: 7 km
Höhenmeter: 120 hm auf/ 120 hm ab
Wertung Landschaft: 3/5
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