Sonntag, 30. Juni
Der Morgen in Achenkirch beginnt sonnig, aber schon beim Einstieg in den Mariensteig ziehen erste Wolken auf. Auch ohne Sonne ist es warm, fast schwül.
Trotzdem ziehe ich meinem Rucksack schon mal die orangefarbene Regenhaube über – wegen des gemeldeten Regens, aber auch wegen der Sichtbarkeit.
Noch habe ich die Hoffnung, dass das Wetter ein paar Leute davon abhält, heute den Uferweg am Achensee zu nehmen. Am Seebad Achenkirch ist es jedenfalls fast menschenleer, aber es ist ja auch noch früh.
Direkt am Anfang der Strecke stehen Warnschilder und ich habe ein bisschen Muffen vor ausgesetzten Stellen.
Naja, immerhin wird mein Rucksack schön orange aufleuchten, bevor er dann mit mir im blauen Achensee verschwindet, sollte ich unterwegs abstürzen.
Der Mariensteig am Achensee
Die Landschaft ist wunderschön, auch mit Wolken.
Der Achensee ist der größte See Tirols, und je nach Wetter leuchtet er in wunderschönem Türkis. Die Ufer sind schmal, nur auf der Ostseite ist überhaupt Platz für eine Straße. Hier auf der Westseite reicht es nur für einen schmalen Steg.
Die Berghänge ragen teilweise steil empor und der Achensee liegt wie in einem riesigen Becken dazwischen. Er lockt jedes Jahr Tausende Gäste an, was ich absolut verstehen kann.
Hier wird einem definitiv nicht langweilig: Man kann schwimmen, Tretboot fahren, Surfen und Segeln, mit der Fähre fahren, essen und trinken, die Landschaft genießen – und natürlich auch wandern.
Der Mariensteig, auch Gaisalmsteig genannt, ist 9 km lang und führt direkt am Achensee entlang auf teilweise sehr schmalen Pfaden auf und ab.
Etwa in der Mitte befindet sich die Gaisalm, ein beliebtes Ausflugsziel, das auch per Schiff erreicht werden kann (heute ist Sonntag, argh!).
Manchmal ist der Weg sehr eng, es gibt künstliche Stufen, um die Höhe zu bewältigen, und Aussichtspunkte laden zum Verweilen ein.
Ab und zu werde ich von anderen Wanderern überholt – aber das kenne ich ja als Wanderschnecke. Eines der Paare, das sich an einer schönen Stelle gegenseitig fotografiert hat, habe ich nach einem Foto von mir gefragt.
Das war zum Glück relativ am Anfang, denn mittlerweile bin ich arg angestrengt und vermutlich knallrot und verschwitzt. Kein Wunder bei der schwülen Hitze!
Die beiden wollen ebenfalls nach Sterzing, gehen aber den Normalweg und planen auch weniger Zeit ein als ich. Kunststück, denke ich, in meinem Tempo braucht man ja auch ewig.
Bisher hält es sich mit dem Gedränge auf dem Weg in Grenzen und ich hege die Hoffnung, dass es so bleibt – für irgendetwas muss das angekündigte Unwetter ja gut sein!
Die Gaisalm
Je weiter ich mich von Achenkirch entferne, desto schöner wird der Weg.
Der See, die teilweise mediterran wirkenden Pflanzen, das helle Gestein auf dem Weg – manchmal komme ich mir vor wie in Südeuropa. Alle paar Meter könnte ich stehenbleiben und fotografieren.
Hier ein Wasserfall, da ein Steilufer, zwischendrin blühende Pflanzen und im Hintergrund auch noch die Berge. Ich verstehe absolut, warum dieser Steig zu den beliebtesten in ganz Tirol gehört.
Jetzt noch ein Stück weiterkraxeln, dann müsste ich oberhalb der Gaisalm herauskommen. Und richtig, da liegt sie!
Eine steile Treppe mit Geländer führt hinunter, am Ufer sitzt eine größere Wandergruppe und hält die Füße ins Wasser. Hier brauche ich meine Stöcke nicht mehr, also packe ich sie weg – und achte dabei nicht auf den Weg.
Plötzlich rutsche ich über das Geröll, greife schnell zum Geländer und ratsche mir den linken Oberarm auf. Autsch!
Die Haut ist gerötet und teilweise abgeschürft, aber es blutet nur wenig. Auch das Bein habe ich mir angeschlagen, aber das merke ich kaum.
Puh, das hätte auch anders ausgehen können. Ich sehe mich schon mit dem schweren Rucksack die Treppe hinunterpurzeln und mit verdrehtem Knie unten ankommen.
Apropos Knie:
Beim Festklammern am Geländer bin ich ins Leere getreten. Ich strecke und beuge das Knie, versuche, durch die Bandage etwas zu ertasten. Fühlt sich alles gut an. Allerdings tut mir nun der Knöchel weh.
Verdammt!
Hoffentlich nichts Schlimmes und nichts, was mehr als Schmerzmittel benötigt. Ich habe keine Lust, mich hier im Ausland behandeln zu lassen oder gar die Wanderung abzubrechen!
Also beiße ich die Zähne zusammen und steige weiter hinab zur Gaisalm.
Tja, so schnell kann es gehen …
Es ist Viertel vor elf, ich könnte also eine Rast einlegen, einen Kaffee oder eine Saftschorle trinken und meinen Knöchel begutachten.
Aber der Himmel gefällt mir nicht. Die Wolken werden immer dichter und es windet merklich. Ich muss auf jeden Fall vor dem Unwetter oben auf der Erfurter Hütte sein, sonst habe ich ein echtes Problem. Schließlich war es mir schon Anfang des Jahres nicht einmal mit Hilfe des Tourismusbüros gelungen, ein bezahlbares Bett in Maurach zu finden – das würde jetzt, auf den letzten Drücker, noch unmöglicher werden (und unmöglich kann man nicht mal steigern!)
Trotzdem gehe ich im Kopf Alternativen durch. Zur Not müsste ich irgendwo außerhalb etwas suchen und mit dem Taxi hinfahren.
Nein, das will ich nicht!
Also lasse ich die Gaisalm rechts liegen und blicke noch einmal auf die Wetterapp. Drei Stunden habe ich demnach noch, bis es losgeht.
Wenn ich mich ranhalte, schaffe ich es!
Menschenmassen
Der Weg bleibt nun einigermaßen flach und führt durch Waldstücke und über dichtes Wurzelwerk.
Wurde ich vor der Gaisalm noch überholt, kommen mir hier eher Leute entgegen. In Wanderklamotten oder weißer Sonntagskleidung, auf dem E-Bike oder auch in hohem Tempo beim Traillauf. Ein Trailläufer motzt die Spaziergänger an, die ihm zu langsam sind, die wiederum regen sich über den Sportler auf.
Der Weg ist breit genug und ich weiche aus.
Noch mehr Menschen kommen mir entgegen.
Die Gaisalm ist offensichtlich ein beliebtes Ausflugsziel für sonntagmittags.

Der Weg wird enger, die Uhr rückt immer weiter gegen Mittag, der Menschenstrom wird größer.
Alle paar Meter muss ich stehenbleiben, um entgegenkommende Gruppen passieren zu lassen. Kaum gehe ich ein paar Schritte, kommen die nächsten. Habe ich anfangs noch freundlich gegrüßt, ist mir mittlerweile eher nach Seufzen (hey, ich verdrehe noch nicht die Augen, meine Selbstbeherrschung ist groß!).
Dass ich Menschen vorbeilasse, scheint ein Zeichen für die Nachfolgenden zu sein, auch noch schnell an mir vorbeizuhuschen – ohne Gruß, Dankeschön oder wenigstens einen Blick.
Mein mittlerweile erhöhter Puls liegt definitiv nicht an der Anstrengung, ich komme ja kaum vorwärts. Immer wieder laufen Paare und Gruppen wie selbstverständlich an mir vorbei, weil die grimmige Frau mit dem großen Rucksack ja alle durchlässt.
Irgendwann bin ich völlig genervt und will hier einfach nur noch weg. Hatte es in meiner Planung wirklich keine andere Option gegeben, als diesen Weg ausgerechnet am Wochenende zu gehen? Hätte ich mir nicht einfach noch ein paar zusätzliche Tage freinehmen können und alles um ein paar Tage verschieben?
Aber das hilft mir jetzt auch nicht. Jetzt bin ich hier und muss irgendwie hier durch. Meter für Meter komme ich vorwärts.
Die Kleidung der Entgegenkommenden wird immer abenteuerlicher. Je näher ich Pertisau komme, desto weniger sind die Spaziergänger auf das Terrain vorbereitet. Mit Flip-Flops, Sandalen mit Absatz oder weiten Kleidern auf einem alpinen Steig? Na super. Und dann auch noch bei drohendem Gewitter …
Die Achensee-Schifffahrt
Mittlerweile tun mir Knöchel und Knie von dem Beinahe-Sturz richtig weh und meine Stimmung ist ziemlich down. Der Weg ist inzwischen asphaltiert und denkbar unattraktiv, und die Wanderung durch die Menschenmenge am Mariensteig hat mich so genervt, dass ich keine Lust mehr auf Wandern habe.
In Pertisau muss ich nicht lange nachdenken, meine Füße tragen mich fast alleine zum Anlegesteg der Achenseeflotte. Ich kaufe ein Ticket nach Seespitz, mache endlich meine Mittagspause (boah, ich habe gar nicht gemerkt, wie hungrig ich eigentlich bin!) Und steige kurz darauf mit anderen auf das Schiff nach Maurach.
Die Fahrt dauert nicht lange, aber ich sitze trotzdem warm eingepackt auf dem Oberdeck und lasse mir den Fahrtwind ins Gesicht wehen.
Ach, so schlecht war die Idee mit der Schifffahrt gar nicht. Vor allem bin ich froh, auf so eine schöne Art abkürzen zu können.
Am Hafen steht die berühmte Dampflok, doch mein Plan ist ein anderer. Im Zentrum des Ortes befindet sich, leicht erhöht, die Talstation der Rofanbahn, die mich nach oben zur Erfurter Hütte bringen soll.
Es hat aufgefrischt und ich löse mein Ticket. Außer mir ist kein anderer Fahrgast in der Kabinenbahn und ich frage den Kabinenschaffner, bis zu welchen Windstärken die Gondel überhaupt fährt.
Wir reden über Schlechtwetter, über Sturmböen und dass er gelegentlich ein mulmiges Gefühl bekommt, wenn es zu stark windet. Mehr klappt leider nicht, da ich Schwierigkeiten habe, den Dialekt zu verstehen.
Auf der Erfurter Hütte
Oben angekommen, gehe ich direkt zur Erfurter Hütte, um einzuchecken und endlich meinen Rucksack abstellen zu können.
Drinnen erwartet mich dann der nächste Zivilisationsschock. Hier oben ist alles auf Hochbetrieb ausgerichtet und mir schwant Fürchterliches. Nach so einem Tag wie heute will ich nicht auch noch mit unzähligen Menschen im Lager nächtigen!
Mittlerweile ist es vierzehn Uhr und ich bin froh, endlich oben zu sein.
Und vielleicht habe ich sogar Glück, und das Unwetter bleibt aus, zieht vorüber oder entpuppt sich als einfacher Landregen.
In dem riesigen Bettenlager unterm Dach liegen nur noch zwei andere Personen.
Das Lager ist noch relativ neu und sehr geschickt in einzelne Abteilungen und Nischen eingeteilt. Es gibt Stockbetten, offene Regale und sogar USB-Ladestecker.
Meine Nische ist noch leer.
Soll ich oben oder unten schlafen? Ich entscheide mich für oben und will gerade anfangen, meinen Hüttenschlafsack sowie Schlafbrille und Ohropax zurechtzulegen, als ich merke, dass ich dann nur durch eine halbhohe Holzwand von dem Pärchen in der anderen Nische getrennt wäre. Ich könnte fast in ihr Bett klettern – oder sie in meins.
Das ist mir dann doch zu nah und ich nehme meine Sachen und breite sie im unteren Bett aus. Vielleicht habe ich ja Glück, und es kommt niemand mehr in meine Nische.
Nachdem ich alles sortiert habe, gehe ich erstmal duschen und setze mich auf die Terrasse, um etwas zu essen und zu trinken.
Leider ist es ziemlich bewölkt, denn der Blick von hier oben auf Achensee und die umliegende Bergwelt ist bei klarer Sicht bestimmt phänomenal!
Nun kommt es doch
Es wird kühl und immer dunkler, also beeile ich mich mit dem Essen, um noch eine Runde spazieren zu gehen. Hinter der Erfurter Hütte ragen die Gipfel des Rofangebirges empor, es gibt Kletter- und Wanderrouten, grüne Wiesen und Fels und Geröll. Eigentlich schade, dass ich nicht noch einen Tag dranhängen und hier ein bisschen wandern kann.
Die Kühe werden unruhig und laufen Richtung Hütte. Es ist noch einmal kälter geworden und die Wolken bewegen sich schnell, hüllen die Berge ein und verdunkeln den Himmel.
Höchste Zeit, umzukehren!
Schnell mache ich noch ein paar Fotos und gehe zügig zurück. Hinter mir eilen Kletterer mit voller Ausrüstung ebenfalls zur Hütte – keine Minute zu spät.
Ich bin noch gar nicht richtig im Lager unter dem Dach angekommen, als es plötzlich unfassbar laut und ziemlich dunkel wird. Mit gezücktem Handy eile ich zum Fenster.
Der Sturm, der sich so lange angekündigt hat, wütet nun intensiv um die Hütte herum. Hagel knallt in hohem Tempo auf das Blechdach und gegen die Fenster, die Bäume biegen sich und ich halte mir die Ohren zu.
Von einem anderen Fenster aus kann ich auf die Bergstation der Gondel schauen. Menschen drängen sich in dem engen Vorraum, die Scheiben sind beschlagen, einzelne Wanderer rennen zur Station, die Arme zum Schutz vor dem Hagel über den Kopf gelegt.
Ich bin froh, hier drin zu sein.
Hoffentlich ist da draußen niemand mehr! Vor allem niemand, der Hilfe braucht.
Nach einer Stunde ist es vorbei.
Der Sturm hat sich gelegt, die Gondel hat die Wartenden nach unten gebracht.
Draußen ist es kalt, der Hagel verstopft die Dachrinnen und bildet Haufen zwischen Felsen und Steinen.
Die Kühe sind nicht zu sehen und ich gehe in den Gastraum, um mir einen Kaiserschmarrn zu gönnen.
Hoffentlich ist das Wetter morgen wieder besser!
Gehzeit: 2:15 Std.
Strecke: 8,7 km
Höhenmeter: 130 hm auf/ 140 hm ab
Wertung Landschaft: 5/5
Viel Spaß!
GröJ
Vielen Dank!
Die Wanderung liegt zwar hinter mir, aber es macht viel Spaß, sich noch einmal genauer damit zu beschäftigen und in Erinnerungen zu schwelgen!
:D