Caminho Portugues – Tag 12

Von Faramello nach Santiago

Caminho Portugues Tag 12 - Startbild

Als ich wach wurde, war es draußen noch dunkel. Im Schlafsaal herrschte Ruhe (zumindest das, was man bei zwölf schlafenden Menschen so bezeichnen kann). Ganz leise nahm ich meine Sachen an mich und schlich aus dem Raum. Nach einem kurzen Abstecher ins Bad ging ich barfuß nach unten und zog Socken und Schuhe an.
Im Laufe meiner Pilgerreise habe ich gelernt, die Abläufe zu perfektionieren: Der Rucksack wird schon am Abend gepackt, Zahnbürste, Zahnpasta und ein kleines Handtuch stecken in der Gürteltasche, die Schuhe stehen sowieso immer außerhalb der Räume (aus gutem Grund).

Dunkelheit

In wenigen Minuten war ich fertig und verließ die Herberge. Es war immer noch dunkel, aus der Herberge drang noch immer kein Ton. Aber ich war nicht die Einzige auf dem Weg. Ein Stückchen hinter mir kamen fünf Leute mit Stirnlampen. Die Lichtkegel hüpften auf und ab und zum ersten Mal auf meiner gesamten Pilgerreise fand ich Stirnlampen sinnvoll. Sie stehen immer wieder auf Packlisten, dabei sind sie der absolute Graus in Schlafsälen. Nichts blendet mehr, als dieser umherirrende Lichtstrahl. Taschenlampen sind viel besser, aber die hat man meist sowieso am Handy.
Die Dämmerung reichte gerade aus, damit ich nicht ins Stolpern geriet, die gelben Pfeile sah ich im Dunkeln aber erst im letzten Augenblick. Hinter dem Ort ging es erst die Straße entlang, dann in ein Waldstück. Um nicht über Wurzeln zu stolpern, zückte ich die Taschenlampe meines Handys.

Caminho Portugues Tag 12 - Plakat im Wohngebiet
Anwohnerproteste

Die Lichtkegel hinter mir kamen immer näher und ich fühlte mich ein wenig mulmig. Sie waren zu mehreren, ich war allein. Weit und breit waren keine anderen Menschen, und bis die ersten Pilger aus meiner Herberge hier vorbeikommen würden, ginge noch einige Zeit ins Land. Mein Handy spendete nicht nur Licht, sondern auch ein wenig Sicherheit.
Doch hinter dem Waldstück überholten mich die Männer und ich konnte in Ruhe weitergehen. Mir war kein Verbrechen an einer Pilgerin bekannt, im Gegenteil, ich hatte ausschließlich positive Erfahrungen gemacht. Aber eine Restunsicherheit bleibt.
Die letzten Kilometer liefen sich quasi von allein. Neben der Herberge in O Milladoiro verspeiste ich das letzte Pilgerfrühstück, zu deutlich höheren Preisen als bisher. Klar, ich befand mich schließlich schon in einem Vorort von Santiago de Compostela. Nur noch sechs Kilometer bis zur Kathedrale, nur noch etwas mehr als eine Stunde Jakobsweg.

Caminho Portugues Tag 12 - Zettel auf Kilometerstein
Motivationszettel

Der Weg führte durch Waldstücke und an der Straße entlang, durch Wohngebiete und an Gärten vorbei. Und natürlich erging es mir in Santiago wie in jeder anderen Stadt auf dem Weg: Ich verlor die gelben Pfeile aus den Augen. Aber hier war es egal. Ich musste einfach nur bis zur Kathedrale kommen, und wenn ich auf den letzten hundert Metern durch die Stadt irrte und nicht mehr auf dem Jakobsweg ging, war das absolut egal.
Schön war es in der Stadt nicht mehr. Die Cafés am Straßenrand wurden touristisch und austauschbar, die Stadt war voll und laut und hatte absolut kein Flair.

Licht

Rucksäcke prägen das Bild des Jakobsweges und bekommen auf dem Weg eine besondere Bedeutung. Zu jedem Rucksack gehörte ein Pilger, und jeder Pilger konnte ein neuer Freund sein. Oder ein alter.
Und die drei Rucksäcke, die ich in diesem einen kleinen Café am Straßenrand entdeckte, kannte ich.
»Hallo Melanie!«
Regina, Heike und Marianne, die drei Pfälzerinnen!
Wir hatten nicht nur in der gleichen Minute unsere Jakobswege begonnen, wir würden sie nun auch gemeinsam beenden.
Die drei hatten wie geplant ihre komplette Ausrüstung dabei. Trotz schmerzender Schulter und offener Blasen würden sie den Weg beenden, wie sie ihn begonnen hatten.
Aber wir würden trotzdem nicht mehr die Gleichen sein.

Caminho Portugues Tag 12 - zwei Wegweiser in Santiago
Die letzten Kilometersteine

Wir quetschten und schoben uns an Menschen vorbei, irgendwo im Hintergrund war die Kathedrale, ab und zu fanden wir einen gelben Pfeil. Es war chaotisch und völlig anders, als ich mir ausgemalt hatte. Wir gingen durch enge Gassen und über Straßen, folgten anderen Menschen mit und ohne Rucksack – und standen plötzlich vor der Kathedrale.
Es war kein langsamer, emotionaler Einmarsch wie in meiner Vorstellung, sondern eher ein: »Wie – sind wir jetzt da?«
Erst als ich um 10:30 Uhr in der Mitte des Platzes stand, begann ich zu begreifen.

Caminho Portugues Tag 12 - Die Kathedrale in Santiago de Compostela
Die Kathedrale in Santiago de Compostela

Ich war da. Ich hatte es geschafft. Ich hatte 260 Kilometer zu Fuß hinter mich gebracht, um hier anzukommen. Um vor dieser Kathedrale zu stehen und von Gefühlen überrannt zu werden. Ich hatte Tränen in den Augen und wusste nicht, warum. Wir fielen uns in die Arme, gratulierten uns, machten Fotos in allen möglichen Positionen und Kombinationen und langsam begann ich es zu begreifen: Ich war den Jakobsweg gegangen. Alleine, zu Fuß und mit allem, was ich brauchte, in meinem Rucksack.
Es gab Tage mit Schmerzen und Tage ohne. Ich hatte vor Wut, Schmerz und Erschöpfung geheult, aber auch vor Glück. Ich hatte tolle Begegnungen gehabt, war in strömendem Regen gelaufen und bei großer Hitze. Und auch wenn ich morgens nie wusste, wo ich abends schlafen würde, habe ich doch immer ein Bett gefunden. Meistens sogar dort, wo ich es gewünscht habe.

Hinter mir lag ein unglaubliches Abenteuer und ich wusste: Das war mein erster Camino, aber nicht der letzte. Wer einmal von dem Virus infiziert wurde, wird ihn nicht mehr los. Wie oft habe ich schon vom Ruf des Camino gehört?
Und auch mich ruft er. Mal lauter und mal leiser und jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, ziemlich laut.

Diese eine Gelegenheit

Da ich nicht reserviert hatte, sollte ich mir schleunigst einen Schlafplatz suchen.
Das war in Santiago längst nicht so einfach wie auf dem Weg, aber ich hatte Glück. Wieder einmal. Denn ich landete in einem Hostel, das sehr beliebt und deshalb oft schon Tage im Voraus ausgebucht ist. An der Rezeption traf ich Annette aus Frankfurt mit den vertauschten Wochentagen. Auch sie war kurz zuvor angekommen.
Nach der Dusche und der obligatorischen Handwäsche meiner Wandersachen zog es mich zurück zur Kathedrale. Ich setzte mich auf den Boden und genoss das Leben um mich herum. Im Minutentakt erreichten Pilger die Kathedrale, sanken auf die Knie, weinten, fielen sich in die Arme, jubelten, lachten und küssten. Weggefährten trafen sich wieder, Rucksäcke und Fahrräder wurden in die Höhe gehoben, Fotos gemacht und über allem lag der Klang des Dudelsackspielers.

Caminho Portugues Tag 12 - Rucksack vor Kathedrale
Mein treuer Gefährte vor der Kathedrale in Santiago

Silvie und Laura hielten ihre Compostelas in der Hand, Nino und Melissa saßen erschöpft auf dem Platz, Stefan lag auf dem Kopfsteinpflaster, an seinen Rucksack gelehnt. Die namenlose Polin eilte vorüber. Piet, der Holländer. Wir alle gratulieren uns, umarmten einander und waren stolz und glücklich, angekommen zu sein.
Da ich nicht gläubig bin und auch keiner Kirche angehöre, verzichtete ich auf einen Besuch in der Kathedrale und wollte mir auch keine Compostela holen. Das war mir schnell klar und hatte sich während des Weges auch nicht geändert.
Aber was hatte ich auf dem Camino gelernt? Mach keine Pläne. Es kommt sowieso alles anders.
Stefan sagte einen wichtigen Satz zu mir: »Du hast nur diese eine Gelegenheit, dir die Compostela zu holen. Vielleicht ärgerst du dich irgendwann.«
Das war rational genug, um mich zu überzeugen. Also stellte ich mich in die lange Schlange der Wartenden vor dem Pilgerbüro. Man liest von Wartezeiten von zwei Stunden und mehr – nur für diesen katholischen Schnickschnack?
Doch plötzlich war es mir das wert und ich kann nicht einmal sagen, warum.
Alex stand in der Schlange und wir verkürzten uns die Zeit mit Gesprächen über den Weg, unsere Erlebnisse und das Danach. Alex traf auf dem Weg wichtige Entscheidungen, die ihr Leben in eine neue Richtung lenken würden.
Ich wollte nichts ändern, dafür aber das, was ich haben, wieder mehr schätzen.

Ich war da!

Später trank ich mit Heike, Regina und Marianne noch ein letztes Pilgerbier und traf eine Entscheidung.
Der Weg nach Fisterra, zum Kap Finisterre, musste nicht mit einer zehnstündigen Busfahrt für dreißig Euro gemeistert werden. Man konnte mit dem Linienbus in drei Stunden hinfahren, dort übernachten und wieder zurückkommen. Und genau das würde ich am nächsten Tag machen. Ich besorgte mir einen Fahrplan und buchte auch gleich die Rückreise nach Porto zwei Tage später.
Später gingen wir noch Essen, teilten uns Tortilla und Pimientos de Padron, genossen den Sommerabend, sprachen über den Weg und unser Leben zu Hause und wünschten uns von Herzen alles Gute.
Santiago war voller Menschen, auch am Abend erreichten Pilger die Stadt, man sah Menschen mit bandagierten Füßen, ausgelassen, glücklich und entspannt.
Ich hatte es geschafft.
Ich war in Santiago!

Caminho Portugues Epilog – Fisterra

Caminho Portugues Tag 11 – Von Valga nach Faramello

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5 thoughts on “Caminho Portugues – Tag 12

  1. Tip; Das nächste Mal bis zu Finisterre laufen ????

    Congrats on finishing you Camino.

    Buen Camino for your next trip.

    Thnx for your story!

    1. Ich war mit dem Bus in Fisterra – der Beitrag erscheint übermorgen.
      Den Weg von Santiago nach Fisterra und Muxia habe ich auch noch im Hinterkopf. Allein landschaftlich vermutlich ein Hit, wenngleich die Etappen recht lang sind.

  2. Da kommt Camino-Feeling auf, schön in Erinnerungen zu schwelgen. Wünsche Dir, dass Du das Gefühl lange konservieren kannst. Übrigens: der Frances ist auch toll. Liebe Grüße und Danke fürs mentale Mitnehmen

    1. Ja, den Frances habe ich auch schon länger auf dem Schirm.
      Aber ich habe ein wenig Angst, dass er, vor allem auf den letzten 100 Kilometern, so voll ist.
      *seufz*

      PS: Und entschuldige bitte meine späte Antwort. Irgendwie wurde mir dein Kommentar nicht angezeigt …

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