Unter der Mauer – Leseprobe

Unter der Mauer - Leseprobe


1. Juli 1984

Liebe Mutti, lieber Vati!
Wenn ihr diesen Brief lest, bin ich nicht mehr da.
Ich habe mich entschieden, ein neues Leben zu führen.
Sucht nicht nach mir, denn ihr werdet mich nicht finden. Ich habe alle Spuren verwischt, um euch nicht mit unnötigem Wissen zu belasten.
Ich weiß, dass meine Entscheidung Konsequenzen haben wird. Auch für euch. Doch ich kann nicht anders. Leider kann ich euch keine Erklärung geben und hoffe auf euer Verständnis.


Ich werde immer an euch denken,
eure Michi

Kapitel 1

»Hey, Nike, fang!«
Lukas warf ihr einen Flaschenöffner zu, den sie geschickt aus der Luft fing.
»Das war knapp!«, rief Nike lachend. Mit einem Plopp öffnete sie die Flasche Bier und hob sie den anderen zum Zuprosten entgegen.
»Auf Pigs and Pearls und den alten Probenraum!«
Sie nahm einen Schluck und schüttelte sich. Das Bier war lauwarm, aber das machte an einem Abend wie diesem nichts. Heute ging es um Erinnerungen, nicht um Gaumenfreuden.
Obwohl der Probenraum eine Zeitlang wie ein zweites Zuhause für sie gewesen war, musste die Band genau wie alle anderen Mieter der Bunkerräume auch, ihr Domizil verlassen. Das Gebäude aus Kriegszeiten war von einer Immobiliengesellschaft aufgekauft worden und sollte nun zu einem extravaganten Wohngebäude ausgebaut werden.
»Feier die Feste, wie sie fallen«, stimmte ihr Bandkollege Jute an und imitierte mit seinen Fingern einen imaginären Basslauf.
»Feier die Feste wie sie fallen, heut‘ ist der beste Tag von allen …«
Nike nahm den Gesang auf, ihre Bandkumpels stimmten ein und plötzlich lagen sie sich in den Armen und sangen den Song, der auf keinem ihrer Konzerte fehlen durfte.
Es half, nicht allzu melancholisch zu werden.
Nach der letzten Strophe löste sich Nike aus der Umarmung und trank von ihrem Bier. Dabei ließ sie den Blick durch den Raum schweifen, über die alten, bunten Teppiche auf dem kalten Betonboden und die Bandposter an den Wänden, bis er an den unzähligen Eierkartons hängenblieb.
»Ich hab die Dinger ja immer gehasst. Die sehen schäbig aus und bringen nichts.«
Mit dem Finger drückte sie eine Erhebung ein, dann noch eine.
»Wie alt sind die überhaupt? Die kleben doch bestimmt noch von der allerersten Band aus den Achtzigern oder so hier.«
Lukas stellte seine Bierflasche auf den Boden und griff mit beiden Händen an den schmalen Rand der Pappe, um sie abzureißen. Sie hatten den Probenraum mitsamt Eierkartons übernommen und sie aus lauter Faulheit an den Wänden gelassen. Dass sie nicht zur Schalldämmung taugten, hatten sie von Anfang an gewusst.
Er riss eine große Lücke in die Wandverkleidung und warf die Reste in Jutes Richtung. Der duckte sich einfach, sodass die Pappe vor Nikes Füßen landete.
»Vorsicht! Zerbrechlich!«
Sie schüttelte den nächsten blauen Müllsack auf, um die Pappstücke darin zu sammeln. Es tat gut, so ausgelassen in dem alten Probenraum herumzualbern. Das linderte die leichte Wehmut, die Nike überkommen hatte. Kein Wunder, immerhin waren sie in diesem Raum in den letzten vier Jahren zu einer richtig coolen Truppe zusammengewachsen.
»Ich wäre ja gern noch hiergeblieben.«
Lukas holte sich noch ein Bier aus der Kiste in der Ecke. »Wir hatten echt eine schöne Zeit hier.«
»Ach, wir werden schon einen neuen Raum finden. Wart’ nur ab!«
Nike prostete ihrem Mann zu, obwohl sie nicht so optimistisch war, wie sie vorgab. In letzter Zeit hatten sie nur noch wenig geprobt, weil Gitarrist Rob und Lukas bei der Siegener Kripo zunehmend mehr Überstunden machen mussten. Diesen Freitagabend hatten sie sich freigehalten, um auf gebührende Weise von diesem Teil ihrer Bandgeschichte Abschied zu nehmen.
»Hey, ihr beiden, hockt hier nicht so faul rum!«
Jutes übersprudelnde Energie war ansteckend. Zu fünft zerrten und zogen sie an den hartnäckig verklebten Eierkartons. Der Haufen in der Mitte wurde immer größer, die Kiste Bier in der Ecke leerte sich.
»Hey, schaut mal!«, rief Jute. »Hier hat wohl jemand alte Liebesbriefe versteckt!«
Er hielt ein paar zerrissene Seiten in die Höhe. »Ob das hier mal ein heimliches Liebesnest war?«
»Das würde dir gefallen!«
Lukas schüttelte lachend den Kopf und begann, Eierkartons in einen blauen Müllsack zu füllen.
»Soll ich euch mal ein paar Zeilen vorlesen?«
Jute hielt die Zettel gegen die Leuchtstoffröhre an der Decke und verengte die Augen.
»Das ist mit Bleistift geschrieben, das kann ich ja kaum entziffern.« Er schwieg einen Moment, dann las er mit gerunzelten Brauen vor. »Ich weiß zwar immer noch nicht, wo ich bin, aber das Mineralwasser heißt Rothaarquelle und … Mehr kann ich nicht lesen. Und das bisschen hier auch nur mit viel Fantasie.«
»Also, dass man nicht weiß, wo man aufwacht, kann ich mir ja noch vorstellen. Aber dann weiß ich zumindest grob, in welcher Region ich mich befinde«, antwortete Lukas lachend. Er nahm einen Schluck Bier und kratzte mit der Spachtel ein paar hartnäckige Pappreste von der weiß getünchten Wand.
»Ja, der Herr von der Kripo weiß eben nicht, wie so ein richtiger Absturz aussieht. Als ich damals in Berlin …«, begann Keyboarder Pit, doch Nike unterbrach ihn.
»Keine Zivi-Geschichten, Pit. Bitte! Wir haben alle mittlerweile mindestens acht Mal gehört.« Sie ging zu Jute, der ihr die zerknüllten Seiten in die geöffnete Hand legte.
»Da sind noch mehr Blätter«, antwortete er. »Wenn du sie lesen willst, musst du das Zeug wohl erstmal sortieren. Die Zettel und Schnipsel hängen nicht zusammen und sind teilweise zerrissen.«
Der blonde Bassist griff an den Rand des nächsten Kartons, unter dem noch mehr Blätter hervor segelten und auf dem Boden landeten.
»Oh, das scheint ein Nest zu sein. Bitteschön.«
Er ging ein paar Schritte zur Seite, um an einer anderen Stelle weiterzumachen.
»Vielleicht sind das ja abgelegte Songtexte einer unserer Vorgängerbands«, mutmaßte Jute und riss an der nächsten grauen Pappe. »Wenn sie gut sind, peppen wir das Ganze auf und machen einen coolen Song draus.«
Nike bückte sich und hob die Seiten auf, doch Jute war schon längst wieder mit dem Abriss beschäftigt.
»Warum versteckt denn jemand so viele beschriebene Seiten hinter der Wandverkleidung?«
Sie hielt die Seiten gegen das Licht. Das Papier war leicht vergilbt, die aufgedruckten Linien eng mit Bleistift beschrieben.
Hätte ich es ahnen können?
Offensichtlich waren die Blätter aus einem Heft oder Buch herausgerissen worden.
»Heb sie doch auf und kleb sie zusammen. Vielleicht sind sie ja wirklich zu gebrauchen«, antwortete Lukas, ohne aufzusehen.
»Und wenn es Tagebucheinträge sind, die niemand lesen soll?«
Sie sammelte die Zettel trotzdem auf.
»Dann schmeiß sie einfach weg. Ist doch egal.«
Lukas warf eine weitere Handvoll Pappe in den Müllsack.
Doch hinter dem nächsten Karton verbargen sich noch mehr Blätter.
Vorsichtshalber verstecke ich die beschriebenen Seiten …
Nike hob sie auf und steckte sie in ihre Gesäßtasche. Vielleicht war es das Bier, vielleicht die ausgelassene Stimmung, vielleicht auch die unterschwellige Traurigkeit, den Probenraum verlassen zu müssen.
Doch die wenigen Sätze regten etwas in ihr an, das sie noch nicht greifen konnte. Sie würde sich morgen damit beschäftigen.

Leipzig, 13. Juni 1984

Es war einer der wenigen schönen Tage in diesem Juni, entsprechend kühl war das Wasser im Kulkwitzer See. Doch das interessierte viele Leipziger nicht, denn die Liegewiesen und Strände an den Ufern des »Kulki« waren überfüllt mit Menschen, die genug von dem ewigen Regen hatten.
»Wer zuerst im Wasser ist!«
Thomas sprang von der Decke auf und rannte auf den See zu.
»Das ist unfair!«, rief Michaela, rappelte sich auf und lief hinter ihm her. Ehe sie ihn erreichte, war er mit einem Hechtsprung im Wasser gelandet und untergetaucht. Michi sprang kopfüber hinterher, als würde nicht auf sämtlichen Schildern am Ufer davor gewarnt.
»Was ist mit dir?« Annett schaute zu Karsten, der entspannt neben ihr sitzen geblieben war und den beiden hinterherblickte. »Keine Lust auf einen kleinen Wettstreit?«
Er richtete sich auf und stützte sich mit den Händen hinter dem Körper ab.
»Ich bleib lieber hier bei dir.«
Dabei sah er ihr direkt ins Gesicht und Annett spürte, wie eine leichte Röte ihre Wangen überzog. Schnell blickte sie nach vorne zum See, wo Thomas gerade ihre Schwester in die Höhe hob, um sie gleich danach ins kalte Nass des Kulkwitzer Sees fallenzulassen. Michi schrie auf und bespritzte ihn mit Wasser, woraufhin er untertauchte und sie von unten umfasste und zu sich zog. Michi kreischte erneut, doch Thomas brachte sie mit einem langen Kuss zum Schweigen.
»Süß, die beiden, oder?«
Karsten legte sich auf die Seite, stützte seinen Kopf mit der Hand und spielte mit einem Grashalm am Saum von Annetts Handtuch.
»Dabei hätte ich am Anfang nie geglaubt, dass das was wird mit ihnen. Deine Schwester hat sich ja wirklich lange gesträubt. Thomas musste sich ziemlich für sie ins Zeug legen.«
»Michi liebt eben ihre Freiheit. Da hat sie ihren eigenen Kopf.«
Annett lachte und blickte auf seine Hand, die langsam näher kam. Der Grashalm kitzelte, als Karsten damit die nackte Haut an ihrem Oberschenkel berührte. Ein Kribbeln zog durch ihren Bauch, vorsichtig strich sie mit ihren Fingerspitzen über Karstens Handrücken.
»Hey, ihr beiden, kommt doch auch ins Wasser! Es ist total erfrischend!«
Michis Ruf zerstörte den kleinen, schüchternen Moment und er zerplatzte wie die zarte Membran einer Seifenblase. Annett zog ihre Hand zurück, Karsten setzte sich wieder auf, als hätte Michaela sie bei einer Ungezogenheit ertappt.
Dabei war das Quatsch, denn vor Michi brauchten sie sich wirklich nicht zu schämen. Wenn Annett daran dachte, was sie ihr manchmal abends vor dem Einschlafen erzählte … Doch in den letzten Wochen hatte ihre Schwester sich verändert, war oft nachdenklich und tat abends, als würde sie ganz schnell einschlafen. Dabei hörte Annett, wie sie sich unruhig im Bett wälzte.
»Na, was meinst du?« Karsten zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Ein paar Schwimmzüge zum Abkühlen?«
Ehe Annett antworten konnte, war er auch schon aufgestanden und mit einem eleganten Sprung im Wasser gelandet. Mit einem verwirrenden Gefühl von Vorfreude und Sehnsucht folgte sie ihm.
Michi, Thomas, Annett und Karsten alberten gemeinsam im See herum, duckten sich unter, bespritzten sich mit Uferschlamm und Seewasser und erzählten sich später anzügliche Witze, während sie sich auf ihren Handtüchern von der Sonne trocknen ließen.
Es war einer der ersten heißen Tage des Jahres und Annett glaubte, dass ihr Glück niemals enden würde.

Kapitel 2

»Guten Morgen!«
Lukas stand in der Schlafzimmertür und hielt zwei dampfende Tassen in der Hand. »Kaffee?«
Ohne auf Nikes Antwort zu warten, stellte er eine der beiden Tassen auf ihren Nachtschrank und kroch neben sie unter die Bettdecke.
»Oder gibt es noch eine andere Möglichkeit, dich zu wecken?«, hauchte er in ihr Ohr. Seine Fingerspitzen strichen über ihren Nacken. Wohlige Gänsehaut breitete sich auf ihrem Oberarm aus und sie seufzte. Es war lange her, dass Lukas sie so sanft geweckt hatte; frühmorgendliche Zärtlichkeiten waren vom Alltag verdrängt und erstickt worden.
Andererseits war sie schrecklich müde. Sie hatten bis nach Mitternacht im Probenraum aufgeräumt, der nun völlig leer und kahl war. Ein unpersönlicher, grauer und mit altdeutschen Ziffern versehener Raum in einem Hochbunker aus Stahlbeton. Irgendwie gruselig.
Anschließend war sie in einem zähen Traum gefangen gewesen, in dem sie die Papierschnipsel entziffern wollte, die ihr aber immer wieder aus der Hand gerutscht und zu Boden gesegelt waren. Sie hatte sich so oft hin- und hergewälzt, dass sie sich nun wie gerädert fühlte.
Lukas‘ Hand wanderte vom Nacken zu ihrer Brust, sein Atem ging flach und streifte ihr Ohr. Doch Nike war nicht in Stimmung, die Bilder des gestrigen Abends waren zu stark, das Bier hinterließ ein flaues Gefühl im Magen.
»Der Kaffee duftet verführerisch«, murmelte sie und wand sich aus Lukas‘ Armen. Sie klopfte ihr Kopfkissen zurecht und legte es sich in den Rücken, so dass sie in bequemer, aufrechter Position ihren Wachmacher genießen konnte.
»Ja klar, der Kaffee.«
Sie merkte Lukas die Enttäuschung an, auch wenn er sie vor ihr verbergen wollte.
»Es hat nichts mit dir zu tun«, erklärte sie deshalb und drückte ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange. »Ich bin wegen gestern noch so aufgewühlt.«
»Schon gut«, erwiderte Lukas. Er lehnte sich ebenfalls gegen die Kopfstütze des Bettes. »Wir sind ja schließlich keine zkpywanzig mehr.«
Er klang beleidigt, doch Nike wollte sich nicht von ihm unter Druck setzen lassen. Denn auch in diesem Punkt hatte er recht; sie waren keine zwanzig Jahre alt, sondern vierzig. Knapp.
»Ich muss noch den Nudelsalat für Hajos Geburtstag morgen vorbereiten. Brigitte bekommt sonst einen Anfall, schließlich ist der Salat fest eingeplant. Und du weißt ja, wie sie ist.«
Lukas seufzte, schwieg aber und nippte an seinem Kaffee.
»Malte wollte übrigens nicht mitkommen, ich habe ihn aber dazu verdonnert«, erklärte sie. »Immerhin wird sein Opa neunundsechzig.«
Lukas hatte die Beine aufgestellt, sie legte eine Hand auf seinen Oberschenkel. Erst beim Kontakt mit Lukas‘ Körperwärme merkte sie, wie kalt ihre Finger waren. Doch Lukas ließ sich nichts anmerken und trank seinen Kaffee, als wäre es die verantwortungsvollste Aufgabe an diesem Samstagvormittag.
Langsam zog sie die Hand zurück. Die Stimmung zwischen ihnen war futsch. Doch Nike hatte keine Lust, sie zu kitten. Nicht schon wieder. Dann sollte Lukas eben seinen Kaffee in der Schmollecke trinken.
»Du weißt ja, wo du mich findest.«
Entschlossen stand sie auf und ging barfuß in die Küche, um den Nudelsalat vorzubereiten und sich von dem unschönen Tagesbeginn abzulenken.
Während die Nudeln kochten, zog sie sich im Badezimmer um und machte sich frisch. Beim Zähneputzen fiel ihr Blick auf die Jeans vom Vorabend, die über dem Badewannenrand hing. Ein Schnipsel lag zerknittert auf den Fliesen. Nike bückte sich und hob das Papier auf.
Was hatte sie da nur gestern Abend geritten, dass sie die ganzen Schnipsel und Blätter aufgehoben und in die Tasche gesteckt hatte? Ein akuter Anfall von Melancholie, dachte sie und grinste mit der Zahnbürste im Mund.
Lukas und die anderen hätten das Papier einfach in den Müllsack gesteckt und weggeworfen; sie hingegen hatte sich von ihrer Neugier leiten lassen. Es war natürlich nicht die feine Art, in einem fremden Tagebuch zu stöbern – andererseits gab es vielleicht auch jemanden, der sich über diese wahrscheinlich längst vergessenen Fragmente seines Lebens freuen würde.
Sie wusch ihr Gesicht und wuschelte sich durch die weißblonden Haare. Später, wenn der Nudelsalat fertig war, würde sie die einzelnen Blätter sortieren.

[…] Ende der Leseprobe

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